WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Der Anti-Bias Ansatz zur Stärkung einer diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen Bildungspraxis

Der Anti-Bias-Ansatz gilt als ein multiperspektivisches Analyseinstrument und ist ein diversitätsbewusster und antidiskriminierender Ansatz. Er fokussiert über die theoretische Implementierung von verschiedenen Ansätzen auf die Praxis. Ziel ist es, Schieflagen auf der Grundlage von unterschiedlichen Diskriminierungsformen (individuell, institutionell, strukturell, kulturell und gesellschaftlich) ausfindig zu machen, in seiner Wechselwirkung zu analysieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Dies steht immer mit der Vision einer zukünftigen besseren und gerechteren Gesellschaft als heute in Verbindung. Was der Ansatz ist und was er innerhalb der Praxis zur Verbesserung der Qualität der Arbeit braucht, erläutert Birol Mertol von der FUMA Fachstelle Gender & Diversität NRW.

Einleitung

Im folgenden Beitrag wird der ursprünglich aus den USA stammende Anti-Bias-Ansatz vorgestellt, dessen Anliegen es ist, eine intensive erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit Macht und Diskriminierung zu ermöglichen und die Entwicklung alternativer Handlungsansätze – im Sinne eines Verlernens – von diskriminierenden Kommunikations- und Interaktionsformen zu fördern1. Dies hängt mit einer diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen Haltung zusammen.

→ Inhalt

Gerade bei den Themen um Diskriminierung spielen auch Begriffe wie Vorurteile und Macht eine wichtige Rolle. Diese stehen zumeist mit gesellschaftlichen Verhältnissen in einem historischen Zusammenhang. Deshalb ist es notwendig, Gesellschaft immer im Verhältnis zum historischen Gewordensein in den Blick zu nehmen und dabei die unterschiedlichen Positionen der sozialen Gruppen darin zu analysieren. Denn über die Einbettung in ein historisches Wissen – mit Fokus auf Dominanz- und Unterdrückungsverhältnisse und dem Kampf von Unterdrückten für Anerkennung – können über die Vermittlung Reflexionen aus der Geschichte für die zukünftige Gestaltung einer demokratischen, gerechten und inklusiven Gesellschaft Konsequenzen gezogen werden. Über die Auseinandersetzung mit dem Anti-Bias-Ansatz werden Machtverhältnisse thematisiert, wodurch die Qualität – [im Sinne einer Menschenrechtsbildung – der Verf.] – der eigenen Praxis durch einen bewussten Umgang mit Macht und Ohnmacht eine Verbesserung zur Folge haben kann. Dies stellt gleichzeitig einen Ansatz der politischen Bildungsarbeit dar2.

Die eigene Haltung als zentrales Element machtkritischer Arbeit

„Wir begeben uns auf eine lebenslange Reise, die in uns selbst beginnt“ (Louise Derman- Sparks)3

Das Zitat von Louise Derman-Sparks, als eine der Hauptprotagonistinnen des Ansatzes, macht sehr deutlich, welcher Zugangspunkt über den Ansatz in erster Linie in den Fokus gerät. Zentral geht es darum, eigene Wahrnehmungen und Normalitätsvorstellungen in einer von Ideologien durchzogenen Welt zu reflektieren und zu verstehen, in wie weit gesellschaftliche Machtverhältnisse Auswirkungen auf Individuen haben.

Menschen werden in eine Welt hinein geboren, in der schon Strukturen und Kategorien von Dominanz- und Unterdrückungsverhältnissen in Jahrhunderten (mit dem Patriachat, dem Kapitalismus/der Industrialisierung, dem Kolonialismus, der Aufklärung und den aufkommenden Wissenschaften) aufgebaut wurden. Dies führt dazu, dass sie – abhängig von ihren Zugehörigkeiten und den damit verbundenen privilegierten oder benachteiligten Positionen – Wissensbestände übernehmen und internalisieren. Wenn z.B. jemand eine cis-hetero-männlich-türkisch-muslimische Person of Color ist, die aus einer Gastarbeiter*innen-Familie kommt und akademisiert ist, gibt es mit Blick auf die Zugehörigkeiten in gesellschaftlichen Verhältnissen und in den Räumen, in denen sie sich bewegt, unterschiedliche Erfahrungen, die sie privilegieren oder de-privilegieren. Dies hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung und auf das Handeln in ihrem Alltag. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass einerseits Menschen mit Merkmalen, die gesellschaftliche Privilegien für sie eröffnen, diese häufig nicht wahrnehmen. Andererseits sind Menschen, die ein Bewusstsein über eigene Diskriminierungserfahrungen mit Blick auf ihre Zugehörigkeiten haben, im Alltag sensibler genau für diese Merkmale. Mit einem übergeordneten Blick auf die Praxis gilt es sensibel für Strukturen von Dominanz und Unterdrückung zu sein, diese ausfindig zu machen und Gegenstrategien für eine gerechtere Praxis zu entwickeln.

"Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass einerseits Menschen mit Merkmalen, die gesellschaftliche Privilegien für sie eröffnen, diese häufig nicht wahrnehmen. Andererseits sind Menschen, die ein Bewusstsein über eigene Diskriminierungserfahrungen mit Blick auf ihre Zugehörigkeiten haben, im Alltag sensibler genau für diese Merkmale."

Deshalb bietet der Anti-Bias-Ansatz auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft, die sich vorurteilsbewusst, machtsensibel und diskriminierungsfrei versteht, keine „Rezepte“, sondern Angebote zum lebenslangen Arbeiten an einer diversitätsbewussten und diskriminierungskritischen Haltung für die Praxis. Die Perspektive des Anti-Bias-Ansatzes als eine der Ansätze antidiskriminierender und diversitätsbewusster Arbeit eröffnet auch neue Räume in der politischen Erwachsenenbildung. Denn es geht nicht darum, sich schuldbewusst mit der Situation der „unterdrückten Anderen“ auseinanderzusetzen oder Anleitungen für den Umgang mit den „vorurteilsbeladenen Anderen“ zu erhalten, sondern darum, die eigene Verstrickung in Dominanz- und Unterdrückungsverhältnisse zu reflektieren, zu spüren und zu erleben. Ziel ist es, zu erkennen, welche Auswirkungen Ungleichheiten und Ungleichwertigkeiten in der Gesellschaft auf einen selbst und andere haben, um daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln4. Denn niemand ist außerhalb von diesen Verhältnissen positioniert. Exemplarisch dafür und für ein Aktiv-Werden bei diskriminierenden Verhältnissen sei das Zitat einer der berühmtesten Gesichter der Bürger*innenrechtsbewegung der USA des letzten Jahrhunderts, von Angela Davis5, genannt, welches den machtkritischen Charakter unterstreichen soll:

„In a racist society, it is not enough to be non-racist, we must be anti-racist.“

Es reicht also nicht aus, nicht rassistisch zu sein. Sondern alle Menschen sind angehalten, um Rassismus als Gesellschaftsstruktur abzubauen, aktiv gegen Rassismus zu werden. Dies kann auch auf alle anderen Diskriminierungsformen6 übertragen werden.

Verbindungen zu den Begriffen Anti-Bias und zum Anliegen des Ansatzes

Aus der Forderung von Angela Davis wird deutlich, dass es mit Blick auf den Anti-Bias-Ansatz sehr gute Anknüpfpunkte gibt. Innerhalb des Ansatzes wird verdeutlicht, dass „non-biased“ zu sein – eine ausschließlich nicht ausgrenzende Haltung zu haben – nicht ausreichend ist. Denn mit dem Begriff „Bias“ wird der Fokus auf Einstellungen/ Haltungen, Überzeugungen und Gefühle gelenkt. Diese führen in gesellschaftlichen Machtsystemen (wie z.B. Rassismus, Patriarchat, Kapitalismus) und einem unreflektierten Profitieren durch diese zu einer nicht Wahrnehmung von Menschen, die von diesen benachteiligt werden. Die Auswahl des Begriffs verdeutlicht, dass sich der Ansatz gegen jede Form von Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung richtet7.

Mit der Übersetzung „Vorurteil“ und „gesellschaftliche Schieflage“ des Begriffs „Bias“ wird die Aufmerksamkeit auf die individuelle und gesellschaftliche Ebene gelenkt als auch gleichzeitig der Hinweis auf die Verstrickungen des Individuums in gesellschaftliche Machtverhältnisse gegeben8. Damit wird in der Definition mitbedacht, dass ungerechtfertigte Ungleichbehandlung oder Diskriminierung eine mögliche Folge von „Bias“ sein kann. Persönliche Vorurteile oder Voreingenommenheiten [denn alle Menschen haben Vorurteile und sind voreingenommen – Anm. des Verfassers] führen nur dann zur Diskriminierung, wenn sie in Verbindung mit Macht stehen9. Die Präposition „Anti“ fordert dagegen auf, eine aktive Positionierung und Handlung gegen Schieflagen einzunehmen, um verheerende Botschaften mit nachfolgenden Effekten im Falle des Nichteinschreitens zu vermeiden. Denn sonst könnten z.B. auf individueller Ebene diskriminierende Personen darin bestärkt werden, in Form eines internalisierten Dominanzdenkens und -verhaltens weiterhin Gewaltausübung als mögliche Lösung zu habitualisieren. Zudem bekämen diskriminierte Personen das Signal, dass sie sich Gewalt unterordnen und sich damit abfinden müssten10, was auf der anderen Seite zu einer Internalisierung von Unterdrückungsdenken und -verhalten führen würde. Deshalb gilt das „Anti“ als eine zentrale Prämisse im Sinne eines Aktivwerdens gegen jede Form von Unterdrückung und Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen11. Und die Kombination der beiden Begriffe Anti-Bias beinhaltet, dass Menschen Verantwortung übernehmen über Prozesse der Bewusstwerdung um sich gegen Ungleichwertigkeitsideologien zu wehren. Dies eröffnet Menschen aus einer dominanten Position andere Möglichkeiten als Menschen, die in einer unterdrückten Position sind.

Deshalb ist es ein Anliegen des Anti-Bias-Ansatzes, einen realistischen und vorurteilsbewussten Umgang mit Differenzen sowie eine reflektierende Analyse eigener Möglichkeiten und Grenzen zu erarbeiten, um diskriminierendes Verhalten auf zwischenmenschlicher, soziokultureller und struktureller Ebene zu erfassen und darauf bezogene Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln12.

Grundgedanken zum Anti-Bias-Ansatz

Im Folgenden werden die Grundgedanken, die den Anti-Bias-Ansatz ausmachen, dargestellt:

Der Anti-Bias-Ansatz richtet sich an alle Menschen: Vorurteile und Diskriminierung tragen zur Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen bei, weil sie gesellschaftlich als Ideologien institutionalisiert sind. Durch die Erzeugung von Ungleichheitsverhältnissen und dem Handeln in hierarchischen Strukturen wird davon ausgegangen, dass alle Menschen Erfahrungen sowohl als diskriminierende als auch diskriminierte Personen machen. Dies durchbricht das dualistische Verhältnis von Täter*in-Sein oder Opfer-Sein. Mit der Herangehensweise über die eigenen Erfahrungen als diskriminierte Person kann im Austausch mit anderen Menschen ein Empathieverständnis entstehen, nämlich dann z.B., wenn das Gegenüber potenziell entlang anderer Differenzlinien von Diskriminierung betroffen ist. Gleichzeitig können durch die Reflexion eigener Erfahrungen diskriminierende Handlungsmuster und gesellschaftliche Kontexte und Machtverhältnisse erkannt werden, mit dem Ziel, diese Handlungsmuster zu verändern. Um die gegenseitige Empathie zu ermöglichen, wird deshalb dafür plädiert, den Kommunikationsraum beschuldigungsfrei, aber nicht wertfrei, zu gestalten. In der Seminararbeit mit Erwachsenen geht es darum, die unterschiedlichen Erfahrungswelten anzusprechen, um eigene Privilegien und Praxen der Ausgrenzung zu reflektieren und mit diesen verantwortlich – im Sinne eines Diskriminierungsabbaus – umgehen zu lernen13.

"Um die gegenseitige Empathie zu ermöglichen, wird dafür plädiert, den Kommunikationsraum beschuldigungsfrei, aber nicht wertfrei, zu gestalten."

Einbezug aller Formen von Diskriminierung (in ihrer Wechselwirkung): Neben den gesellschaftlich vorherrschenden Diskriminierungsformen bezieht der Anti-Bias-Ansatz alle möglichen Differenzierungen ein, die zu Diskriminierung in spezifischen Kontexten ungleicher Machtverteilung führen können. Wenn sichtbare oder zugeschriebene Merkmale herangezogen werden, um Diskriminierung zu legitimieren, gelten diese als soziale Konstruktionen. Da sie in der Praxis eine reale (negative) Auswirkung auf Betroffene haben, gilt es, die realen Auswirkungen der Differenzlinien aufzugreifen als auch deren Konstruktionen in die Analyse zu nehmen. Intendiert ist es, nicht alle Diskriminierungsformen wahllos zu thematisieren, sondern sich an der jeweiligen Gruppe zu orientieren und die dort relevanten Diskriminierungsformen vertiefend zu bearbeiten. Der Anti-Bias-Ansatz nimmt keine Bewertung der subjektiven Bedeutung von Diskriminierung in Richtung schlimmer oder weniger schlimm vor, was gleichzeitig bedeutet, keine Vergleiche oder Hierarchisierungen zwischen Diskriminierungsformen vorzunehmen. In diesem Zusammenhang geht der Blick auch auf den gesellschaftlichen Kontext, um die historische, strukturelle und ideologische Verwobenheit von Diskriminierungsformen zu bearbeiten 14. Dieses Zusammenwirken und Ineinandergreifen von verschiedenen Diskriminierungsformen ist inzwischen auch in der politischen Bildungsarbeit bekannt mit dem Begriff der „Intersektionalität“. Um zum Verständnis des Zusammenwirkens von mehreren Diskriminierungsformen in der Praxis beizutragen wird auf ein eigens beobachtetes Bewerbungsverfahren in einer Kita zurück gegriffen: Bei der Sichtung der Unterlagen wird über die Information von Text und Bild die Bewerbung einer als muslimisch gelesenen Frau aus der Dortmunder Nordstadt (der nördliche Innenstadt-Bezirk unterliegt klassistischen Abwertungen) aufgrund mehrerer Merkmalskombinationen von der weißen Leitung der Einrichtung aussortiert mit den Worten: „Solch ein Frauenbild vertreten wir hier nicht.“ In diesem Zusammenhang ist sehr gut dargestellt, wie beim Blick aus einer weißen Dominanzposition auf den weiblich gelesenen Namen in Verbindung mit dem Aussehen (abgebildet ist eine Frau mit einem Kopftuch), der zugeschriebenen religiösen Verortung und der angegebenen Adresse der Bewerberin rassistische, antimuslimische, sexistische und klassistische Diskriminierungsformen ineinandergreifen und eine spezifische Form der Gewalt entfalten15.
Einbezug aller Ebenen von Diskriminierung: In der Analyse von Diskriminierung und Diskriminierungsmechanismen werden neben subjektiven Einstellungen und individuellen Verhaltensweisen auch gesellschaftliche und globale Strukturen sowie deren Verstrickungen untereinander in den Blick genommen. Dabei gibt es bei Diskriminierung drei unterschiedliche Ebenen, die gleichzeitig ihre Wirkungsmacht vollziehen können. Angelehnt an die frühere Anti-Bias-Werkstatt gibt es
  • Die zwischenmenschliche Ebene, die sich auf konkretes Verhalten von Menschen gegenüber anderen Menschen oder Gruppen bezieht. Ausgangspunkt ist, dass „Andere“ wegen bestimmter Merkmale oder Eigenschaften als anders konstruiert werden, weil sie vom eigenen Standpunkt abweichen. Hier spielen direkte Diskriminierungspraxen eine Hauptrolle, weil sie im Rahmen von zwischenmenschlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen stattfinden. Der Einsatz von individuell-situativer Handlungsmacht und die Macht durch die gesellschaftliche Positionierung tragen zur bewussten oder unbewussten Diskriminierung bei.
  • Die institutionelle Ebene beinhaltet etablierte Rechte, Traditionen, Gewohnheiten und Verfahren, durch diese bestimmte Gruppen und Menschen hinsichtlich ihrer Merkmale und Eigenschaften als anders konstruiert werden und dadurch systematische Benachteiligung erfahren. Hierzu zählen Gesetze und Strukturen, deren Kennzeichen eine soziale, politische und ökonomische Macht sind. Diese Strukturen können zwar nur bedingt auf einzelne Personen zurückgeführt werden, weil institutionelle Funktionen relativ stabil gegenüber personellen Veränderungen bleiben. Jedoch tragen die profitierenden Beteiligten bewusst oder unbewusst zur Reproduktion der Ungleichheitsstrukturen bei16.
  • Die ideologisch-diskursive Ebene beinhaltet die Maßstäbe zur Bewertung, Beurteilung und Benachteiligung (z.B. was normal ist) aus dominanten Diskursen und Ideologien. Dies trägt zum „Othering“ von Menschen und bestimmten Gruppen bei. Die Ebene beinhaltet jegliche ungeschriebenen Gesetze, Normen, Werte, Ideale sowie Diskurse, die ihre Wirksamkeit in einem bestimmten Kontext haben und von herrschenden Mehrheiten als selbstverständlich anerkannt werden und so zur bewussten oder unbewussten Reproduktion führen17.

Ziel ist ein vorurteilsbewsusstes und diskriminierungsfreies Handeln

Ausgehend davon, dass alle Menschen Vorurteile haben, die sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Funktionen erfüllen, werden Komplexitätsreduktionen, die Herstellung klarer Zugehörigkeiten (und damit die Abgrenzung von „Anderen“), positiver Selbstbilderhalt und die Legitimation von Herrschaft und Unterdrückung als funktionale Aspekte von Vorurteilen genannt18. Klar ist, dass es keine vorurteilsfreie Realität gibt. Und deshalb geht es um die Analyse von Vorurteilen hinsichtlich der Ausprägungen, Wirkungen und der Funktionen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Vorurteilen eröffnet einen vorurteilsbewussten und diskriminierungsfreien Umgang der Menschen. In der Auseinandersetzung mit dem Anti-Bias-Ansatz ist es deshalb wichtig, sich in gesellschaftliche Verhältnisse einzumischen. Neben der kritischen Selbstreflexion und Entwicklung nicht-diskriminierender Denk- und Handlungsmuster, geht es darum gesellschaftliche und globale Ungleichheitsverhältnisse mitzudenken und die Vision einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zu verfolgen19.

Mit Bezug auf Derman-Sparks und Carol Brunson-Phillips als eine weitere Akteurin für die Entwicklung des Anti-Bias, sind die grundlegenden Ziele des Anti-Bias-Ansatzes für alle Menschen die gleichen und sind auf alle (Arbeits-)Kontexte übertragbar und anwendbar. Sie gelten auch als Grundgerüst für die Praxis:

Die grundlegenden Ziele des Anti-Bias-Ansatzes:

Ziel 1: Die Anerkennung und Stärkung aller an Lernprozessen Beteiligten in ihren individuellen und Bezugsgruppen-Identitäten,

Ziel 2: Die Förderung einer respektvollen und wertschätzenden Haltung gegenüber der Vielfalt von Menschen,

Ziel 3: Die Sensibilisierung für Vorurteile, Macht und Diskriminierung und Unterstützung von kritischem Denken. Hierbei geht es auch um die Auseinandersetzung mit internalisierter Dominanz und Unterdrückung,

Ziel 4: Die Ermutigung und Stärkung der Fähigkeit, gegen Diskriminierung (auf allen Ebenen) aktiv zu werden20.

Umsetzung der Vision einer machtkritischen Praxis in Verbindung mit Ansätzen von Empowerment und Powersharing

Mit Blick auf den Anti-Bias-Ansatz geht es darum, sichere Räume zu gestalten, um über Biografiearbeit Selbstreflexionsprozesse in Gang zu bekommen, um aus der Reflexion von Privilegien und De-Privilegien Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Diese machtkritische Perspektive ist auch durch die Ansätze eines Empowerments und Powersharings vorgesehen.

Empowerment und Powersharing sind jeweils in den Kämpfen um Handlungsmacht zentral aufeinander bezogen und besetzen gleichzeitig entgegengesetzte Positionen. Sie fordern in ihrem Zusammendenken die Anerkennung und Sichtbarmachung von Diskriminierungen und Privilegierungen unter einer herrschaftskritischen Perspektive21 . Deshalb gehören Empowerment und Powersharing zu machtkritischen Konzepten, die im Kontext unterdrückerischer Strukturen zur Entwicklung von solidarischen Handlungsmöglichkeiten auf einer subjektiven und Kollektiven Ebene führen können.

Empowerment wird in diesem Zusammenhang als ein dekoloniales, communityorientiertes Konzept zur Selbststärkung, Heilung und (Wieder-)Aneignung von Handlungsspielräumen von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen verstanden22. Es geht darum, sich mit verinnerlichten Erfahrungen in Unterdrückungsverhältnissen zu beschäftigen und sich in einem Prozess des Empowerments aus einer fremdbestimmten und gewalterfahrenen Position zu befreien und auf Grundlage von Selbstdefinition und –bestimmung Bewältigungsstrategien gegen unterschiedliche Diskriminierungsformen zu entwickeln23.
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Powersharing richtet sich an privilegierte Menschen und ihre solidarischen Handlungen, die sich aus Verantwortungsübernahme ihrer Position für historische und aktuelle, soziale und ökonomische Bevorteilung aus unterdrückerischen Strukturen ergeben. Die Verantwortung zielt dahingehend darauf, dass sie sich für die Öffnung und Umverteilung von Ressourcen, Zugängen und Diskursen einsetzen24. Für privilegierte Positionen heißt es, die eigenen Machtbefugnisse als Verbündete der Marginalisierten so zu nutzen, dass dadurch aktiv durch Powersharing Barrieren abgebaut werden können, um diesen Gruppen Zugänge zu Ressourcen der Gesellschaft zu verschaffen.
Letzten Endes geht es darum, dass Menschen Räume für sich in Anspruch nehmen, um sich einerseits mit der eigenen Machtlosigkeit zu beschäftigen und sich, auf der Grundlage der Selbstdefinition und Selbstbestimmung zu empowern. Andererseits besteht die Notwendigkeit, sich mit dem eigenen Machtzugang auseinander­zusetzen und diese Macht mit minorisierten Menschen solidarisch zu teilen.25

Ausblick

Heute gilt der Anti-Bias-Ansatz als einer der reichhaltigsten und innovativsten Ansätze im Bereich der diversitätsbewussten und antidiskriminierenden Bildungsarbeit und entwickelt sich nach wie vor weiter. Zudem sind die machtkritischen Konzepte Empowerment und Powersharing in dem Ansatz enthalten, denn alle Menschen machen kontextbezogen Erfahrungen als Diskriminierende als auch Diskriminierte. Das heißt, Menschen mit Mehrfachzugehörigkeiten haben gleichzeitig machtstarke und machtschwache Positionen inne. Bei Empowerment als politisches Konzept geht es dann bei unterdrückten oder diskriminierten Menschen um die Auseinandersetzung mit Unterdrückungsverhältnissen und in diesen ein Bewusstsein eigener Machtpotenziale, Machtzugänge oder auch -barrieren zu gewinnen, um so Handlungsstrategien zum Abbau von Schieflagen zu entwickeln.

"Es ist notwendig, dass Menschen sich aktiv mit ihren (strukturell) privilegierten Positionen auseinandersetzen mit dem Ziel, Verantwortung für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft zu übernehmen."

Machtpotenziale können in der politischen Bildungsarbeit z.B. mit Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen in angeleiteten methodischen Zugängen zum Thema „Internalisierte Unterdrückung“ sichtbar gemacht werden26. Gleichzeitig sind auch bei Menschen machtstarke Positionen enthalten, die mit gesellschaftlichen Privilegien einhergehen. Hier greifen Potenziale des Powersharings, denn es ist notwendig, dass Menschen sich aktiv mit ihren (strukturell) privilegierten Positionen auseinandersetzen mit dem Ziel, Verantwortung für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft zu übernehmen27. Auch diese Auseinandersetzung ist über das Themenfeld der „Internalisierten Dominanz“ im Anti-Bias-Ansatz gegeben. In der gleichzeitigen Auseinandersetzung der Fachkräfte der politischen Bildungsarbeit mit den Themen Dominanz und Unterdrückung können die unterschiedlichen Positionsanteile in gesellschaftlichen Verhältnissen sichtbar und in einem weiteren Schritt alternative Möglichkeiten entwickelt werden, um Empowermentprozesse zu entfalten und gleichzeitig Strategien des Powersharings nachzukommen. Can28 spricht in diesem Zusammenhang, dass echte Transformationen gegen Diskriminierungs- und Machtungleichverhältnisse nur gelingen kann, „wenn sich nicht nur Machtarme untereinander (Doing Empowerment), sondern auch Machtreiche (Doing Powersharing) ohne paternalistische Bevormundung solidarisieren. Insoweit sollte Doing Empowersharing, also das Zusammendenken von empowerment und Powersharing, als handlungsmächtige Maxime auch wegweisend für die politisch praktische Bildungsarbeit“ (…) sein. Dies macht deutlich, wie wichtig es für Fachkräfte in der politischen Bildungsarbeit ist, eine machtkritische Positionierung der eigenen Person in Angeboten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu Leben. Damit werden unbewusste Reproduktionen von Diskriminierungsformen minimiert und es können in der Analyse mit den Zielgruppen Anteile von Empowerment und Powersharing als Querschnittsaufgabe gestärkt werden.
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Birol Mertol

Birol Mertol, Erziehungswissenschaftler und Bildungsreferent bei der FUMA Fachstelle Gender & Diversität Nordrhein Westfalen. Arbeitsschwerpunkte: Diversität, Jungen*arbeit, Gender- und Migrationspädagogik, Rassismuskritik/Kritisches Weißsein, Anti-Bias-Ansatz und Empowerment.

1 Vergleiche Praxisprojekt Anti-Bias-Werkstatt. http://portal-intersektionalitaet.de/forum-praxis/portraet-praxisprojekte/praxisprojekte/intersektionalitaet/2012/anti-bias-werkstatt/. Zugriff am 15.10.22 []

Reddy, Prasad (2020). „Hier bist du richtig, wie du bist!“. Theoretische Grundlagen, Handlungsansätze und Übungen zur Umsetzung von Anti-Bias-Bildung für Schule, Jugendarbeit, Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung. (Hrsg.): Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA). Düsseldorf. []

3 Hierzu: https://www.anti-bias-netz.org/start/anti-bias/ []

4 Fleischer, Eva (2016): Der Anti-Bias-Ansatz als Methode politischer Erwachsenenbildung. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs. Ausgabe 28, 2016. Wien. http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/16-28/meb16-28.pdf. Zugriff am 15.10.22. []

Über den folgenden Link können vertiefende Infos zur Biografie und zu ihren Werken eingelesen werden: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/angela-davis/ []

6 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden die gesellschaftlich vorherrschenden Diskriminierungsformen aufgezählt, die immer wieder in Fortbildungen vorkommen: Rassismen, (Cis-/Hetero-) Sexismus, Klassismus, Adultismus, Altersdiskriminierung, LGBTIQ*-Feindlichkeit, Ableismus, Lookismus, Bodyismus, Antisemitismus, Linguizismus und Nationalismus. []

7, 17 Schmidt, Bettina (2009): Den Anti-Bias-Ansatz zur Diskussion stellen. Beitrag zur Klärung theoretischer Grundlagen in der Anti-Bias-Arbeit. Oldenburg. [] []

Trisch, Oliver (2013): Der Anti-Bias-Ansatz. Beiträge zur theoretischen Fundierung und Professionalisierung der Praxis. Stuttgart. []

Schwärzer, Constanze (2012): Anti-Bias: Mit Vorurteilen und Macht bewusst umgehen – aktiv gegen Diskriminierung vorgehen. http://www.constanzeschwaerzer.de/wordpress/wp-content/uploads/Schw%C3%A4rzer_Anti-Bias.pdf [Nicht mehr abrufbar]. In: Mertol, Birol (2016): Der Anti-Bias-Ansatz als Grundlage für eine Vorurteilsreflektierte Pädagogik am Beispiel des MIKA-Methodenkoffers. https://www.ufuq.de/aktuelles/der-anti-bias-ansatz-als-grundlage-fuer-eine-vorurteilsreflektierte-paedagogik-am-beispiel-des-mika-methodenkoffer/. Zugriff am 15.10.2022 []

10 Mertol, Birol (2017). Der Anti-Bias-Ansatz als Grundlage für eine Vorurteilsreflektierte Pädagogik am Beispiel des MIKA-Methodenkoffers. In K. Bozay & D. Borstel (Hrsg.), Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft (S. 381–402). Wiesbaden. []

11 Derman-Sparks, Luise and the A.B.C. Task Force 1989/ 2001: Anti-Bias-Curriculum. Tools for empowering young children. Washington. []

12 Chernivsky, Marina 2010: Von Bias zum Perspektivwechsel. In: Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.: Perspektivwechsel. Theoretische Impulse. Methodische Anregungen. S. 4-17. http://static1.squarespace.com/static/555e035fe4b0d64b51005b8e/t/558c1199e4b04eac6faa6030/1435242905042/pw-broschuere-methodenbuch-web.pdf. Zugriff am 15.10.2022. []

13, 14, 16, 18 Schmidt, Bettina/ Dietrich, Katharina/ Herdel, Shantala (Anti-Bias-Werkstatt) 2011: Anti-Bias-Arbeit in Theorie und Praxis – kritische Betrachtung eines Antidiskriminierungsansatzes. In: Scharathow, Wiebke/ Leiprecht, Rudolf: Rassismuskritik. Bd. 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. (S. 154-170). Schwalbach. [] [] []

15 Mertol, Birol/ Weilbrenner, Miriam (2022): Intersektionale Professionalisierung aus der Perspektive des Anti-Bias-Ansatzes. In: Bak, Raphael/ Machold, Claudia (Hrsg.): Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken. Theoretische, emoirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung (S. 323-337). Wiesbaden. []

19 Herdel, Shantal 2007: Was ist Anti-Bias? http://www.anti-bias-werkstatt.de/sites/default/files/public/Downloads/3%2BWas%2Bist%2BAB.pdf [nicht mehr zugreifbar] in: Mertol, Birol (2016): Der Anti-Bias-Ansatz als Grundlage für eine Vorurteilsreflektierte Pädagogik am Beispiel des MIKA-Methodenkoffers. https://www.ufuq.de/aktuelles/der-anti-bias-ansatz-als-grundlage-fuer-eine-vorurteilsreflektierte-paedagogik-am-beispiel-des-mika-methodenkoffer/. Zugriff am 15.10.22. []

20 Anti-Bias-Netz (Hrsg.). (2016). Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. (S. 11–13). Freiburg. []

21 Menhard, Ioanna (2020): Solidarität und Mündigkeit selbst-kritisch zusammengedacht – pädagogische Überlegungen mit Interesse an Empowerment und Powersharing. In: Birgit Jagusch/Yasmine Chehata (Hrsg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Beltz Juventa, 72 – 83. []

22, 24 Nassir-Shahnian, Natascha Anahita (2020): Powersharing: es gibt nichts Gutes, außer wir tun es! Vom bewussten Umgang mit Privilegien und der Verantwortlichkeit für soziale (Un-) Gerechtigkeit. in: Jagusch, Birgit/ Chehata, Yasmine (Hrsg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen (S. 29–42). Weinheim & Basel. [] []

23 Mertol, Birol (2020): Rassistische Konstrukte und Männlichkeiten* – Rassismuserfahrungen bei Jungen* und Empowerment als Konzept für die Jungen*arbeit. In: Jagusch, Birgit/ Chehata, Yasmine (Hrsg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen (S. 251–263). Weinheim & Basel. []

25 Rosenstreich, Gabriele (2020): Empowerment und Powersharing unter intersektionaler Perspektive. In: Birgit Jagusch, Yasmine Chehata (Hg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Beltz Juventa, S. 229. []

26  Mamutovič, Žaklina (2016). Empowerment und Anti-Bias – Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In Anti-Bias-Netz (Hrsg.), Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz (S. 113–126). Freiburg. []

27 Jagusch, Birgit/ Chehata, Yasmine (2020): Vortext: „Wenn Wissen und Diskurs persönlich wird“ und werden sollte. In: Dies. (Hrsg.), Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen (S. 9–18). Weinheim & Basel. []

28 Can, Halil (2018): Die Diskussion um Werte sollte unabhängig von Migration und Flucht zentrales Thema der politischen Arbeit sein. Interview. https://empowered-by-democracy.de/wp-content/uploads/2018/11/BAP_EbD_Broschuere_RZ_web.pdf. Zugriff am 15.10.2022. []

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