Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Biographisches Lernen

Biografisches Lernen hat sich seit den 1980ern  als pädagogisches, didaktisch-methodisches Konzept in der Erwachsenenbildung etabliert (siehe Behrens-Cobet 2000: 299). Die Biografie ist dabei eine (vergangenheitsbezogene) Lernressource, die „neben den aktuellen Lernwegen, Lernwiderständen und Aneignungsmodi auch die (zukünftigen) Lernziele und Perspektiven des Lernenden“ (Nittel 2018: 148) bestimmt. Neben der Kommunikation und Reflexion biografischer Erfahrungen unterstützt biografisches Lernen bei der „Bildung neuer individueller und kollektiver Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten“ (Dausien 2011: 120). Denn die Biografie eines Menschen „inkorporiert sowohl die subjektive als auch die objektive Seite des Lebensablaufs“ (Nittel 2018: 146). Das heißt, individuelle Erfahrungen und deren subjektive Bewertungen gestalten eine Lebensgeschichte, die von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen geprägt wird (siehe Braun 1996: 109). Nach Peter Alheit haben Menschen in der Regel das Gefühl, relativ selbstständig über ihre Biografie verfügen zu können, obwohl ein großer Teil biografischer Aktivitäten durch Institutionen und andere Prozessoren festgelegt ist (siehe Alheit 2003: 13). Er nutzt dafür den Begriff „Biographizität“ und meint damit eine sich immer wieder ändernde Auslegung der eigenen Lebenskontexte, die als gestaltbar und bildbar erfahren werden (siehe a.a.O.: 16).

Bettina Dausien unterscheidet drei Formen biografischen Lernens:

  • Biografie als Hintergrund. Bereits erworbenes Erfahrungswissen sollte in pädagogischen Situationen immer mitgedacht werden. Lernen ist in die je individuelle Lebensgeschichte eingebettet und beeinflusst und strukturiert neue (Lern-)Erfahrungen (siehe Dausien 2011: 116-117).
  • Biografie als Lernfeld. Biografische Erfahrungen werden mit geeigneten Methoden in das pädagogische Setting miteinbezogen. „Eigene Interessen, Vorgeschichten und bislang unreflektierte Wissensbestände können expliziert und in der Kommunikation mit anderen verglichen werden“ (a.a.O.: 117).
  • Biografie als Gegenstand von Bildungsprozessen. Durch Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann ein Reflexionsraum über die eigene Identität, Zugehörigkeiten, Kontinuitäten und Brüche entstehen. Auch fremde Biografien werden oft zum Lerngegenstand, beispielsweise in der historisch-politischen Bildung. „[M]it unterschiedlichen Methoden [wird] der Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Zeitgeschichte“ (a.a.O.: 119) anhand biografischer Dokumente und/oder Zeitzeugenerzählungen bearbeitet. Biografien stehen oftmals stellvertretend für kollektive Erfahrungen, können aber auch Gegenperspektiven zu gesellschaftlich dominierenden Erzählungen bieten (siehe a.a.O.: 120).

Weiterlesen:

  • Alheit, Peter (2003): “Biographizität” als Schlüsselqualifikation. Plädoyer für transitorische Bildungsprozesse. In: Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e. V. / Projekt Qualifikations-Entwicklungs-Management: Weiterlernen – neu gedacht Erfahrungen und Erkenntnisse. QUEM-report, Schriften zur beruflichen Weiterbildung, Heft 78, Berlin, S. 7-22. https://www.abwf.de/content/main/publik/report/2003/Report-78.pdf (abgerufen am 25.08.2021)
  • Behrens-Cobet, Heidi (2000): Biographisches Lernen. In: Becker, Susanne / Veelken, Ludger / Wallraven Klaus Peter (Hrsg.): Handbuch Altenbildung. Wiesbaden, S. 299-304. https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-663-10248-9.pdf (abgerufen am 24.08.2021)
  • Braun, Susanne (1996): Biographisches Lernen als Methode in der Erwachsenenbildung. In: Faulstich-Wieland, Hannelore / Nuissl von Rein, Ekkehard / Siebert, Horst / Weinberg, Johannes (Hrsg.): Biographieforschung und biographisches Lernen. REPORT Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, Nr. 37, Frankfurt am Main, S. 109-115. https://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-1996/faulstich-wieland96_01.pdf (abgerufen am 25.08.2021)
  • Dausien, Bettina (2011): „Biographisches Lernen“ und „Biographizität“. Überlegungen zu einer pädagogischen Idee und Praxis in der Erwachsenenbildung. In: Hessische Blätter für Volksbildung 02/2011, Bielefeld, S. 110-125
  • Nittel, Dieter (2018): Biographietheoretische Ansätze in der Erwachsenenbildung. In: Tippelt, Rudolf / von Hippel, Aiga (Hrsg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (6. Aufl.). Wiesbaden, S. 145-160
Transfer für Bildung e.V.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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