Debatten
der Politischen Bildung

Replik auf „Verordnetes Vergessen und ‚Dritte Schuld'“

Werte Kolleginnen und Kollegen,

Der Text über das „verordnete Vergessen“ von Yana Milev auf der Seite profession-politischebildung.de des bap hat uns überrascht und entsetzt: Wenn es sich hier um einen Meinungs-Chat über Transformationsfolgen und-probleme handelte, wäre er sicherlich eine Facette des notwendigen Streits über die vielfältigen Schattenseiten der „Vereinigung“. Radikal subjektive Ansätze sind in der Kunst ein wichtiges Moment für kreative Lösungen, in der Politik dezidierte Meinungen Teil des demokratischen Streits, in der politischen Bildung und der Bildungsgeschichtsschreibung sind ideologisch-verbohrte Positionen allerdings nicht nur ein verzeihlicher Rückschritt.

Es geht hier ja nicht um einen persönlichen Meinungsbeitrag, sondern um eine wissenschaftlich begründete, empirisch angereicherte und multiperspektivisch argumentierende Geschichte der Erinnerung an die DDR und der damit korrespondierenden pädagogischen Formate. Der Beitrag firmiert als Teil eines Portals, das Grundfragen des Professionsverständnisses beleuchten soll; Projektziel ist „ein Übersichts- und Nachschlagewerk, welches Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses“ deutlich macht. Dort gelten andere Maßstäbe. Aufgabe des Beitrages wäre es gewesen, die in der außerschulischen politischen Bildung und den einschlägigen Museen, Gedenkstätten und Aufarbeitungsinstitutionen präsenten Thesen und Diskurse zum Thema DDR-Geschichte und die dort eingesetzten pädagogischen Formen zusammenzufassen, zu vergleichen und ggf. zu bewerten. Eine pädagogische Fragestellung und Argumentation sucht man allerdings vergebens. Mag ja sein, dass für Kulturwissenschaftler*innen eine Flughöhe vertretbar ist, in der vom „Wandertag ins KZ“ schwadroniert werden kann – als Anregung für eine professionelle Befassung der politischen Bildung mit der DDR-Geschichte und der gedenkstättenpädagogischen Praxis ist das schlicht skandalös.

Die Autorin zeigt in diesem Pamphlet so gut wie keine Kenntnis der erinnerungskulturellen Entwicklungen seit 1990, und sie ignoriert fast alle Debatten der Professionen Erwachsenenbildung, Geschichtsdidaktik, Zeitgeschichte usf. Ihre gegen alle Empirie formulierte These eines „von oben“ angeordneten Vergessens, bezogen vor allem auf die Dimensionen des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, ist leider völlig ungeeignet, weitere Reflexion über die komplizierten Wandlungen des kulturellen wie des kommunikativen Gedächtnisses anzustoßen. Die legitime und notwendige Kritik an den Transformations-Jahrzehnten und auch die Hinweise auf westliche Einseitigkeiten im Weltkriegsgedenken werden verquirlt mit verschwörungsmythischem Geraune über die vermeintliche staatliche „Gleichschaltung“ der Diskurse. Statt Kritik und Unbehagen etwa im Sinne Aleida Assmanns präsentiert Y. Milev eine hermetische Konstruktion: „Implementiert“ habe die neue Geschichtskultur nach ihrer Lesart die „reaktionäre gesamtdeutsche Erinnerungs- und Aufarbeitungspolitik seit 1889/90“. Im Verbund mit westdeutschen Historiker*innen seien Institutionen eigens zum Zweck einer „wissenssoziologischen Schocktherapie“ gegründet worden. Die Bundesstiftung Aufarbeitung wird gar als „Hüterin der Siegerjustiz“ verunglimpft. Individuen, Parteien, Geschichtsvereine, Einrichtungen der politischen Bildung und Forschungseinrichtungen in Ostdeutschland befolgen demnach diese Linie entweder untertänig oder werden durch (von ihr in Anführungsstriche gesetzte) Demokratieerziehung umgepolt. Das bürgerschaftliche Engagement vieler DDR-Oppositioneller (lt. Milev „‘gläubige‘ Dissidenten“) – durch sie wurden viele Gedenkstätten und Erinnerungsorte erst geschaffen, Debatten angestoßen – ist Y.M. keine Zeile wert. Eine geschichtskulturell angeblich vorherrschende Gleichsetzung von SED-Herrschaft und Nazidiktatur (und damit auch die flotte These von der „dritten Schuld“) zu behaupten, ist nun wirklich mehr als kühn – die Nischen, in denen solche Simplifizierungen sich eine Weile hielten, sind fast alle inzwischen „gelüftet“ und von differenzierteren Analysen geprägt. Was eine einzelne Gedenkstättenlehrerin an Seminarideen ins Netz stellt, ist der empirische Beweis dieser Anklage gegen eine ganze Forschungslandschaft, die Publizistik, die politische Bildung und die Geschichtskultur? Die polyphone Historiker*innen-Generation, die sich nach 1990 herausgebildet hat, und die differenzierten DDR-Analysen von Autor*innen wie Annette Leo, Patrice Poutrus, Ilko-Sascha Kowalczuk, Axel Doßmann etc. werden vorsichtshalber ignoriert oder ebenfalls über den Leisten der behaupteten „Gleichschaltung“ geschlagen.

Geringe Kenntnisse des Feldes der politischen Bildung kann man der Autorin vielleicht gar nicht vorwerfen. Wohl aber muss der Redaktion und dem Beirat, die das Pamphlet hier offenbar bewusst platziert haben, vorgehalten werden,  Grundsätze und essenzielle Prinzipien unserer Arbeit wie das Herausarbeiten von „Grautönen“ und kontroversen Positionen, Ambiguitätstoleranz und Multiperspektivität ignoriert zu haben. Dass die präsentierten (und diskutierten!)  DDR-Bilder in der außerschulischen politischen Erwachsenen- und Jugendbildung so einfältig wie hier phantasiert sind, ist (zufällig auch durch uns) empirisch widerlegt. Sehr interessant wäre gewesen zu erfahren, wie Gesellschaften (oder Regierungen? oder „die Medienhäuser“?) es nach Yana Milev anstellen könnten, erwünschtes Geschichtsdenken „dauerhaft in die memoriale Gesinnung der deutschen Demokratie einzubetten“, ohne die ethischen Grundsätze demokratischen, pädagogischen, geschichtskulturellen Handelns zu verletzen; darüber denken viele kluge Menschen nämlich schon seit Längerem nach.

„Nachwuchskader“ – „Umbau“ – „im Interesse des Westens“ – „Hauptauftrag“ der Medienhäuser – „Kriegstreiberei gegen Russland“ – „revanchistische Assimilationspolitik“ – „Armada der westdeutschen DDR-Historiker“ – „Verschweigen der historischen Gründe einer politischen Nachkriegsordnung in Europa“ – „Präventivkriegslüge“ – „…müssen wir jetzt Putin den Krieg erklären“ – „russophobe Gesinnung“ – hat wirklich niemand unter den Verantwortlichen bemerkt, welch simplizistische Weltsicht da auftritt, welch durchsichtige Kulissenschieberei da vorgeht? Ach ja, „sozialpsychiatrisch gesehen“ ist das wohl so – die Pathologisierung der Andersanalysierenden grüßt da nicht nur von weitem.

Der Autorin geht es um die flächendeckende Desavouierung geschichtskultureller Entwicklungen im und nach dem Einigungsprozess und um eine umfassende Relegitimierung der DDR, die nach der „Totalliquidation“ Teil einer „Demokratie der Kriegswirtschaft“ geworden sei, so dass die Autorin (das betont sie öffentlich) das schweizerische Exil vorgezogen hat. Stalinistische Willkür – die „Speziallager“ beispielsweise übersieht sie ostentativ – und Diktatorisches darf es nicht gegeben haben, weil dies (gefühlt) die BRD-Kritik relativieren würde; wir nahmen eigentlich an, dass diese 50er Jahre-Aufrechnerei  (Globke vs. Melsheimer usw.) spätestens seit den 1990ern überwunden sei. 1989/90 errungene Bürgerrechte, die Meinungs-, Reise-, Presse- und Koalitionsfreiheit spielen keine Rolle bzw. werden in einen Verblendungszusammenhang eingeordnet. Und die nazistischen Devianzen in Ostdeutschland können dann praktischerweise als bloße Reaktionen auf unsensible Umbauer*innen entschuldigt werden. Das ist starker Tobak, an dieser Stelle allenfalls als abschreckendes Beispiel für das Misslingen politischer Bildung tauglich. Der Beitrag von Y. Milev ist im Wesentlichen ein Wiedergänger des damaligen teilweise verlogenen, jedenfalls um viele historische Dimensionen verkürzten DDR-Antifaschismus. Das ist peinlich für ein Projekt, das sich auch mit dem Satz „Wie geht gute politische Bildung?“ schmückt, und peinlich für den bap und die BpB.

Wir fürchten beinahe, dass dieses redundante Amalgam aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Absurditäten ohne ernsthafte Lektüre und Redaktion auf die Seite geraten ist (dafür sprechen auch schlechte „Scherze“ wie „Emil Nolte“, „Willy Brand“, „Ausschwitz“, „Alaida Assmann“), vielleicht von einer wichtigen Persönlichkeit empfohlen? Oder ist das alles ein subversiver Test, ob die politischen Bildner*innen dieses Portal überhaupt zur Kenntnis nehmen?

Die fachliche Verantwortung dermaßen auf die leichte Schulter zu nehmen, ist auf jeden Fall keine gute Empfehlung für das Gesamtprojekt. „Zu einer ‚auf der Höhe der Zeit‘ stehenden, diversitätsorientierten politischen Bildung zu kommen“, wird mit derart grobschlächtigen Rückfällen in Kalter-Krieg-Lagerdenken vollkommen verfehlt.

 

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