Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Überwältigungsverbot

Das „Überwältigungsverbot“ ist das erste Prinzip des sogenannten Beutelsbacher Konsenses: 

Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbstständigen Urteils‘ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers“ (Wehling 1977). 

Der Beutelsbacher Konsens wurde in den 1970er-Jahren als professionelles Selbstverständnis politischer Bildung formuliert (vgl. Overwien 2019), das zu dieser Zeit über Parteien und politische Positionen hinweg (minimal-)konsensfähig erschien. Neben dem Überwältigungsverbot umfasst der Beutelsbacher Konsens zwei weitere Prinzipien politischer Bildung: ein Kontroversitätsgebot (Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen) sowie die Befähigung der Schüler*innen, eine politische Situation und ihre eigenen Interessen zu analysieren (siehe dazu u.a. Teilnehmendenorientierung).  

Das Überwältigungsverbot soll sicherstellen, dass Teilnehmende einer Bildungsveranstaltung frei darin sind, sich eine eigene politische Meinung zu bilden und Urteile zu fällen. Die pädagogische Anforderung besteht darin, die Bedingungen und Mittel dafür bereitzustellen, ohne Meinungen und Urteile vorzugeben. Es wirft jedoch die Frage nach der Normativität politischer Bildung auf, die im professionellen Verständnis in Deutschland auf der Anerkennung grundlegender Werte und Rechte, wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, beruht.  

Deswegen erhob und erhebt die Wissenschaft beispielsweise vielstimmigen, dezidierten Einspruch gegen eine aus dem Überwältigungsverbot abgeleitete Forderung nach einer „Neutralität“ von Lehrer*innen (und politischen Bildner*innen): „Es [das Rollenvorbild neutrale Lehrperson, die Verf*in] fördert die Tugend der Meinungslosigkeit, des Sich-Heraushaltens, des Nicht-Flagge-Zeigens“ (Nonnenmacher 2011: 91). Lehrer*innen und politische Bildner*innen sollten ihre persönlichen politischen Meinungen durchaus einbringen – transparent ausgewiesen (vgl. Emde 2017) als gleichgewichtige Einzelmeinung und diskutierbaren Beitrag zu einem diversen und kontroversen Meinungsbild innerhalb einer Klasse, einer Gruppe oder eines offenen Settings. 

Eine besonders scharfe Konfliktlinie zeigt sich, wenn es um Fragen politischen Handelns und Aktion aus dem Unterricht heraus geht und das Überwältigungsverbot zur Diffamierung dagegen eingesetzt wird (vgl. Nonnenmacher 2011) oder als Verdikt bemüht wird: „[Das Überwältigungsverbot, die Verf*in] dient Gegnern einer an Handlungen orientierten politischen Bildung als willkommenes Alibi, diese möglichst vom Unterricht, von der Bildungsveranstaltung fern zu halten. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Denn wer den Teilnehmer/-innen seiner Veranstaltung die konsequente Umsetzung des Erlernten in der Realität vorenthält, überwältigt sie auch“ (Hufer 2015). 

Die Debatte über die Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses wird in zahlreichen Beiträgen facettenreich fortgesetzt (vgl. Widmaier/Zorn 2016, Krüger 2020, Sämann 2021). 

Weiterlesen:

  • Emde, Oliver (2017): Stadtrundgänge zwischen Politischer Bildung und politischer Aktion. In: Emde Oliver, Jakubczyk Uwe, Kappes Bernd, Overwien Bernd (Hrsg.): Mit Bildung die Welt verändern? Globales Lernen für eine nachhaltige Entwicklung. Leverkusen-Opladen. Schriftenreihe „Ökologie und Erziehungswissenschaft“ der Kommission Bildung für nachhaltige Entwicklung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). S. 243-264
  • Hufer, Klaus-Peter (2015): Wie politisch ist die politische Bildung? Thesenpapier im Rahmen des Bundeskongresse Politische Bildung am 21.3.2015 in Duisburg
  • Krüger, Thomas (2020): Beutelsbach 2.0 – zehn Thesen zur politischen Bildung. In: Hentges, Gudrun (Hrsg.): Krise der Demokratie – Demokratie in der Krise? Gesellschaftsdiagnosen und Herausforderungen für die politische Bildung. Frankfurt a.M., S. 177-193 
  • Nonnenmacher, Frank (2011): Handlungsorientierung und politische Aktion in der schulischen politischen Bildung. Ursprünge, Grenzen und Herausforderungen. In: Widmaier, Benedikt / Nonnenmacher, Frank (Hrsg.): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der Politischen Bildung. Schwalbach/TS., S. 83-110
  • Overwien, Bernd (2019): Politische Bildung ist nicht neutral. In: WOCHENSCHAU Verlag Dr. Kurt Debus GmbH (Hrsg.): Shrinking Spaces. Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt, S. 26-38 
  • Sämann, Jana (2021): Neutralitätspostulate als Delegitimationsstrategie. Eine Analyse von Einflussnahmeversuchen auf die außerschulische politische Jugendbildungsarbeit. Frankfurt a.M.
  • Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Schiele, Siegfried / Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173-184 
  • Widmaier, Benedikt / Zorn, Peter (Hrsg.) (2016): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn. Schriftenreihe Bundeszentrale für politische Bildung/bpb (Bd. 1793) 
Transfer für Bildung e.V.

Transfer für Bildung e.V.

Der Verein Transfer für Bildung e.V. setzt sich für die politische und kulturelle Bildung ein. Er fördert deren Beforschung, Beratung und Begleitung der Praxis und unterstützt den Dialog von Wissenschaft, Praxis und Politik in diesen Bereichen.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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