Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Defizitorientierung

Wenn im Bildungsbereich von menschlichen Defiziten gesprochen wird, ist damit häufig ein Mangel oder ein Zuwenig an Kompetenzen, Wissen, Fähigkeiten oder Können gemeint. Manchmal wird darunter auch eine „falsche“ Disposition, Einstellung oder Verhalten zu einem bestimmten Sachverhalt verstanden. Defizitorientierung meint die Fokussierung auf (tatsächliche oder vermeintliche) Defizite von Individuen oder bestimmten Personengruppen in Bildungskonzepten, Bildungsangeboten sowie im pädagogischen Handeln.

In der politischen Erwachsenenbildung ist Defizitorientierung oftmals mit der Definition und Ansprache von Zielgruppen verknüpft. Grund dafür ist, dass Zielgruppenbezug eine defizitorientierte Perspektive als Ausgangspunkt haben kann, etwa wenn für Gruppen- oder Adressat*innenbeschreibungen Begriffe wie bildungsfern, bildungsbenachteiligt, politikfern oder gefährdet genutzt werden (siehe Beckmann et al 2022: 28). Zielgruppenspezifische Merkmale, die (vermeintliche) Defizite benennen, richten sich zumeist an gesellschaftlichen Normen aus, schreiben sie aber häufig den Individuen als eigenem Versagen zu. Sie „weisen auf Benachteiligungen im ökonomischen, sozialen, politischen Leben hin und implizieren daher gesellschaftspolitische Dimensionen. Diese werden jedoch oft ignoriert und stattdessen die Defizite zu subjektiven Unzulänglichkeiten erklärt.“ (Holzer 2010: 2). Besand und Jugel kritisieren, dass solche defizitorientierten politischen Bildungsangebote nicht in der Lage sind, bestimmte Teilhabehindernisse abzubauen, sondern sie im Gegenteil verfestigt werden (siehe Besand/Jugel 2015: 105-106).

Gegenmodell ist eine pädagogische Fokussierung auf Ressourcen (Ressourcenorientierung). Eine entsprechende Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen geht davon aus, „besondere Merkmale, Bedürfnisse und Interessen von Gruppen zu identifizieren. Beim Umgang mit Personen ist das Wissen über deren Lebensbedingungen hilfreich für die Entschlüsselung ihres Kommunikations-, Lern- oder Sozialverhaltens, um geeignete Bildungsgelegenheiten zu arrangieren und Bildungsprozesse unterstützen zu können.“ (Transferstelle politische Bildung 2016: 14).

Um eine destruktive Defizitorientierung zu verhindern, plädieren Beckmann et al für eine machtkritische Grundlage in der politischen Bildungsarbeit. Hierunter verstehen sie zum Beispiel die ständige Reflexion über individuelle Hintergründe, Privilegien und Perspektiven der Bildungsteilnehmer*innen sowie pädagogischem Fachpersonal und deren Einfluss auf das Bildungsgeschehen (siehe Beckmann et al 2022: 31). Defizitorientierung kann dementsprechend nur praktisch aufgelöst werden, indem die zugeschriebenen Defizite und Merkmale ständig mit der Realität abgeglichen werden „und individuell auf das eingegangen […] [wird], was aus der Sicht der Betroffenen aktuell gesellschaftspolitisch und biografisch adäquat ist. Dafür müssen politische Bildner_innen in der Lage sein, emphatisch den Blickwinkel der Individuen auf die Welt mit der eigenen Wahrnehmung abzugleichen.“ (Transferstelle politische Bildung 2016: 15).

Weiterlesen

  • Beckmann, Eva / Goseberg, Lea Philline / Sondermann, Wiebke (2022): Zielgruppenspezifische politische Bildung abseits von Defizitorientierung: Chancen und Herausforderungen in der Arbeit mit Zielgruppenbezügen in der politischen Bildung. In: Journal für politische Bildung, 12. Jahrgang, Heft 2, S. 28-31
  • Besand, Anja / Jugel, David (2015): Zielgruppenspezifische politische Bildung jenseits tradierter Differenzlinien. In: Dönges, Christoph / Hilpert, Wolfram / Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn, S. 99-109
  • Holzer, Daniela (2010): Benennen wir doch endlich Defizite! Ein kritischer Kommentar zur Defizitorientierung in Zielgruppendiskussionen. In: Magazin erwachsenenbildung.at, 10, S. 1-6, online: https://www.pedocs.de/volltexte/2013/7519/pdf/Erwachsenenbildung_10_2010_Holzer_Benennen_wir_doch_endlich.pdf (zuletzt abgerufen am 08.08.2022)
  • Transferstelle politische Bildung (2016): Angezielt und doch daneben? Ein kritischer Über- und Einblick in Forschung und Praxis. In: Transferstelle politische Bildung c/o Transfer für Bildung e. V.: Jahresbroschüre „Wenig erreichte Zielgruppen der politischen Bildung – Forschung zu Zugangsmöglichkeiten“. Essen, S. 7-28, online: https://transfer-politische-bildung.de/fileadmin/user_upload/Broschueren/Jahresbroschuere-2016-TpB-Zugaenge-web_compressed.pdf (zuletzt abgerufen am 10.08.2022)
Transfer für Bildung e.V.

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Der Verein Transfer für Bildung e.V. setzt sich für die politische und kulturelle Bildung ein. Er fördert deren Beforschung, Beratung und Begleitung der Praxis und unterstützt den Dialog von Wissenschaft, Praxis und Politik in diesen Bereichen.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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