Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Zielgruppenarbeit

„Generell ist eine Zielgruppe ein Konstrukt derjenigen, die Zielgruppen definieren. Eine Zielgruppendefinition klassifiziert Menschen in Gruppen, indem sie eine „Leitdifferenz“ (Luhmann) […] betont und andere Persönlichkeitsmerkmale vernachlässigt.“ (Siebert 2000, 93). In einer pluralen Gesellschaft gibt es eine Vielzahl von Menschengruppen, die sich auf Grund eindeutig erscheinender Merkmale voneinander unterscheiden. Für die Bildungsarbeit bedeutet das, dass „[a]usgehend vom gedanklichen Konstrukt einer bestimmten Gruppe […] Angebote entwickelt [werden]“ (Faulstich/Zeuner 20110, 58)

Bei der Entwicklung ihrer Bildungsangebote haben die Planer*innen drei Gruppen im Auge:

  1. Teilnehmende, also diejenigen, „die in den Veranstaltungen präsent sind“ (ebd.),
  2. Adressaten, „eine zunächst unspezifische Gruppe“ (ebd.), die mit den Programmen erreicht werden sollen, und schließlich
  3. Zielgruppen.

Da Letzteren jeweils typische gemeinsame Merkmale zugeschrieben werden, erleichtert das die bei der Planung die Konkretisierung, die genaue Themenstellung.

In den 1970er Jahren wurde in der außerschulischen Jugendbildung und der politischen Erwachsenenbildung „Zielgruppenarbeit als Mittel der Demokratisierung“ (Degen-Zelasny 1974) der Bildungsinstitutionen und damit letztendlich der Gesellschaft verstanden. Denn auffallend war, dass manche Gruppen in den Veranstaltungen unterrepräsentiert waren bzw, fehlten: „Ausländer (sic!), Arbeiter und Angestellte ohne Hauptschulabschluß und ohne Berufsausbildung, berufstätige Frauen, Schichtarbeiter und Arbeiter, Angestellte und Landwirte in ländlichen Bereichen“ (ebd, 157). Speziell auf diese und weitere Gruppen und ihren – unterstellten – Bedürfnissen zielende Angebote wurden entwickelt (siehe Hufer 1985, 170 – 179).  Mit den Konzepten zur Zielgruppenarbeit verbunden war immer eine kollektive Handlungsorientierung, also die Annahmen, dass die Gruppen mit der Wahrnehmung ihrer Interessen gesellschaftspolitisch aktiv werden.

Doch bereits in den ausgehenden 1990er Jahren wurde das Ende dieses emanzipatorischen Ansatzes festgestellt: „Die Idee der politischen Bildung als gesellschaftliche Aktivierung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ist […] aufgegeben worden.“ (Gieseke 1999, 249) Das deckt sich mit dem Hinweis, dass in einem neueren, umfangreichen Handbuch zur politischen Bildung die Begriffe Zielgruppe und Zielgruppenarbeit nicht aufgenommen worden sind (Sander/Pohl 2022)

Ein Grund dafür mag eine geänderte, mehrheitlich getragene Gesellschaftsdiagnose sein: die Abkehr von der Klassengesellschaft oder dem Modell sozialer Schichten und stattdessen die Hinwendung zu einer Gesellschaft sozialer Milieus, die sich weniger durch „objektive“ Merkmale als vielmehr durch Lebensstile, Kommunikationsformen, ästhetische Präferenzen etc. unterscheiden.

Dadurch ist aber die Notwenigkeit zielgruppenspezifischer politischer Bildung nicht erledigt worden. Denn die sehr multiple, heterogen und divers gewordene Milieugesellschaft der Gegenwart und der zu erwartenden Zukunft erfordert weiterhin, vielleicht mehr denn je differenzierte Bildungsangebote. Allerdings hat sich als Kritik an der früheren Zielgruppenorientierung die Feststellung durchgesetzt, dass ihre „auf bestimmte Personengruppen zugeschnittene Bildungsangebote häufig eine defizitorientierte Perspektive auf die jeweilige Zielgruppe beinhalte[t]en“ (Beckmann, Goseberg, Sondermann 2022, 28). Doch die Gesellschaft ist nach wie vor sozial gespalten und hierarchisch gegliedert, es gibt Macht und Ohnmacht, Inklusion und Exklusion. Daher müssen politische Bildner*innen weiterhin an den zentralen Kategorien ihrer Profession, nämlich Macht, Herrschaft, Konflikt und Interesse festhalten, aber gleichermaßen den Bezug zu dem, was allen gemeinsam ist, herstellen (siehe ebd., 31). Das erfordert für die politischen Bildner*innen soziologische Phantasie, neue Ansprachen, aufsuchende Bildungsarbeit sowie didaktische Kreativität.

Weiterlesen:

  • Beckmann, Eva/Goseborg, Lea Philline/Sondermann, Wiebke: Zielgruppenspezifische politische Bildung abseits von Defizitorientierung. Chancen und Herausforderungen mit Zielgruppenbezügen in der politischen Bildung, in: Journal für politische Bildung 2/2022, S. 28 – 31
  • Degen-Zelasny, Barbara: Zielgruppenarbeit als Mittel der Demokratisierung der Volkshochschule, In: Hessische Blätter für Volksbildung 3/1974, S. 198 – 205
  • Faulstich, Peter/Zeuner, Christine: Erwachsenenbildung, Weinheim und Basel 2010
  • Gieseke, Wiltrud: Zielgruppearbeit, in: Klaus-Peter Hufer (Hrsg.): Außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Band 2 des Lexikons der politischen Bildung, hrsg. von Georg Weißeno, Schwalbach/Ts. 1999, S. 247 – 249
  • Hufer, Klaus-Peter: Möglichkeiten und Bedingungsfaktoren politischer Erwachsenenbildung am Beispiel kommunaler Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen, Frankfurt am Main, Bern, New York 1985
  • Sander, Wolfgang/Pohl, Kerstin (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, 5. Vollständig überarbeitet Auflage, Frankfurt/Main 2022
  • Siebert, Horst: Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht, 3. Auflage, Neuwied und Kriftel 2000
Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer

Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer

Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer ist Politik- und Bildungswissenschaftler und außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich mit Geschichte, Theorie und Praxis der politischen Bildung sowie mit der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und -extremismus.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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