GESCHICHTE DER POLITISCHEN BILDUNG

Die Geschichte der Integrationsräte: Politische Teilhabe und Politische Bildungsarbeit

Wir befinden uns mitten in einer pluralen Gesellschaft. Wahr ist dabei aber auch: Die heutigen Partizipations- und Repräsentationslücken zeigen auf, dass die im Grundgesetz verbürgte Chancengerechtigkeit oft nicht erfüllt wird: Der migrantischen Normalität und der pluralen Verfasstheit unseres Grundgesetzes steht dabei teilweise ein gesellschaftliches Meinungsbild entgegen, welches entschieden antiplural ist. Menschen erfahren strukturelle Ausschlüsse und begegnen teils offenem Rassismus. Wie steht es daher um unser „Migrationswissen“? Welchen Realitäten geben wir Raum und welche Perspektiven lassen wir außen vor? Und welche Rolle nimmt dabei die Politische Bildung ein? Wir blicken im Gespräch mit Dr. Deniz Nergiz auf deutsche Geschichte(n) und die Entwicklung der institutionalisierten Integrationsräte.

Geschichte der Integrationsräte

Profession-Politischebildung: In den Nuller Jahren verfestigt sich auch im Politischen das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. Bis dahin war es jedoch ein langer Weg. In welcher Tradition steht da der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat?

→ Inhalt

Dr. Deniz Nergiz: Auch in unserer Historie zieht dieser Wandel sich wie ein roter Faden durch. So wurden Anfang 70er Jahren, die ersten Ausländer(bei)räte in den Kommunen gegründet, um die Belange der immer pluraler werdenden Bevölkerung in der Kommunalpolitik aufzugreifen. Diese wurden aufgrund der wachsenden Zahl an Ausländer*innen in den Kommunen eingeführt, um einen politischen Zugang zueinander zu schaffen und auch schlicht Informationen und Belange auszutauschen. Das war eine Zeit, in der die Gastarbeiter*innen und ihre Familien sich so langsam für den Verbleib in Deutschland entschieden, während Deutschland weder passende politische Maßnahmen für Eingewanderte hatte, um ihnen das Einleben und Einfinden zu erleichtern oder politischen Einfluss als Wähler*innen zu geben, noch ein Selbstverständnis als ein Einwanderungsland entwickelt hatte.

Profession-Politischebildung: Welche Rolle haben da die Integrationsräte übernommen?

Nergiz: Die Integrationsbeiräte haben von Anfang an eine doppelte demokratische Legitimation inne: Einerseits sind sie ein Gremium der kommunalen Selbstverwaltung; ihre Satzungen, ihre Zusammensetzung, ihre Rechte und Pflichten werden von den lokalen Stadt- oder Gemeinderäten beschlossen. Andererseits waren die Beiräte in der Anfangsphase politische Vertreter*innen von Ausländer*innen. Heute hat sich das auf alle Menschen mit Migrationshintergrund erweitert.

"Die Beiräte sind für Drittstaatler*innen oft das einzige Mittel, in beratender Funktion Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen und ihre Sichtweisen und Erfahrungen - unabhängig von den ihnen nicht zugänglichen Wahlen - einzubringen."

Dr. Deniz Nergiz

Eine weitere Etappe, die die zunehmende Institutionalisierung und rasant wachsende Zahl der Beiräte als Ergebnis hatte, führte in diesem Kontext in den 1980er-Jahren auch zur Etablierung der Urwahl sowie Ende der 80er Jahre zur Gründung von Landesorganisationen, die die Interessen von kommunalen Beiräten gebündelt in die Landespolitik getragen haben. Nach der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger*innen sind die Beiräte für Drittstaatler*innen oft  das einzige Mittel, in beratender Funktion Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen und ihre Sichtweisen und Erfahrungen – unabhängig von den ihnen nicht zugänglichen Wahlen – einzubringen. Der Bundeszuwanderungs- und integrationsrat, gegründet unter dem Namen Bundesausländerbeirat, entstand 1998 als Zusammenschluss der Landesverbände.

Der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat (BZI) ist der bundesweite Zusammenschluss der Landesorganisationen kommunaler Integrations-, Migrations- und Ausländerbeiräte. Er wurde im Jahr 1998 unter dem Namen Bundesausländerbeirat (BAB) gegründet und fast zehn Jahre später in Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat umbenannt.
 
Als politische Interessenvertretung der migrantischen Bevölkerung in Deutschland steht der BZI als Ansprechpartner der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und der der Bundeszentrale zur Verfügung und arbeiten mit gesellschaftlich relevanten Organisationen auf Bundesebene zusammen. Der BZI sorgt zudem für Erfahrungsaustausch zwischen den Landesverbänden und ihren Beiräten und koordiniert ihre gemeinsamen Interessen auf Bundesebene.

Gerade mit diesem Schritt verdeutlichen Vertreter*innen, dass sie sich nicht in der Rolle des Lückenbüßers für ein fehlendes Wahlrecht sahen – und zeigten zunächst auf Landesebene und später mit der Gründung des bundesweiten Zusammenschlusses (Bundesausländerbeirat), dass sie die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Veränderungen parallel zu den kommunalen Strukturen kritisch begleiten werden. 

Wir entstanden also aus der Institutionalisierung der Ausländer/Integrationsbeiräte als politische Gremium und Interessenvertretung auf Ebene der Kommunen und Länder. Deswegen sind sowohl die mittlerweile Integrationsräte genannten Beiräte, die Landesverbände, und auch der BZI  im Artikel § 28 (Kommunale Selbstverwaltung) des Grundgesetzes verwurzelt.

Entscheidungsbefugnisse

Profession-Politischebildung: Welche Veränderung nehmen Sie seit Entstehung der Integrationsbeiräte, aber auch der migrantischen Selbstorganisation insgesamt wahr? Wo stehen diese heute und mit welchen Entscheidungsbefugnissen sind diese heute ausgestattet?

Nergiz: Nach der Umgestaltung vieler Ausländerbeiräte zu Integrationsbeiräten und auch der Gründung der Landesverbände hat sich einiges verändert. Die Umgestaltung zu Integrationsbeiräten betont mit der neuen Namensgebung die Wahrnehmung einer vielfältigen Gesellschaft und auch eine Abdeckung von deutlich mehr Themen. Integrationsbeiräte befassen sich nicht mehr nur mit Themen der Integration, sondern mit allen gesamtgesellschaftlichen Themen – auch unter anderem mit Rassismus und Rechtsextremismus.

Die Struktur der Beiräte wurde auch diverser. Die Wahlberechtigungen wurden einerseits erweitert, und auch die Zusammensetzungen wurden vielfältiger. Von Kann-Regelungen bis zur Vorgabe durch Landesrecht wie in Hessen, NRW, dem Saarland und Rheinland-Pfalz und dann wiederum der verpflichtenden Einrichtung in Berlin zeigen die Beiräte weiterhin großen Diskrepanzen zwischen den Bundesländern.

Profession-Politischebildung: Aber wie sieht es mit der tatsächlichen Mitentscheidung aus? Welche Rolle übernimmt da ein Integrationsrat?

Nergiz: Die Beiräte können maximal „mitentscheiden“, Empfehlungen abgeben und an die Kommunen mit ihren Belangen appellieren. In einigen Kommunen kommt es zum Einsatz von Integrationsausschüssen statt der üblichen Integrationsbeiräte. Diese unterscheiden sich darin, dass die Integrationsausschüsse mehr Befugnisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Entscheidungen haben und somit laut ihrer Unterstützer*innen auch mehr bewirken können. Da solche Integrationsausschüsse jedoch mehrheitlich aus berufenen Mitgliedern des Rates bestehen, lautet die berechtigte Kritik an diesen, dass durch den Einsatz solcher Ausschüsse der einzige Weg der demokratisch legitimierten, politischen Teilhabeform in der Kommune – insbesondere für Drittstaatenangehörige – ausgehebelt wird.

Mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Bürger*innen sind sie heute vor allem für Drittstaatsangehörige wichtige politische Kanäle, da für diese Gruppe weiterhin kein kommunales Wahlrecht eingeräumt wird.

Beiräte unterscheiden sich untereinander auch dadurch, wie sie in der kommunalen Verwaltung verankert werden. Hier zeichnet sich eine bunte Mischung von Ansiedlungen ab; bei dem*der Oberbürgermeister*in, bis hin zu Dezernaten oder Integrationsbeauftragten. Ein weiterer Punkt, in dem sich die Beiräte unterscheiden, ist die Wählerschaft. Während ursprünglich ausschließlich ausländische Staatsangehörige wählen durften, wurden im Zuge weitreichender Veränderungen, wie z.B. einer erleichterten Einbürgerung und anhaltender Zuzüge von (Spät-) Aussiedler*innen, die Wahlberechtigten neu definiert. Heute können in vielen Kommunen auch Aussiedler*innen und eingebürgerte Migrant*innen über die Besetzung abstimmen.

Legitimität der Integrationsräte

Profession-Politischebildung: Wahlen zählen zum Kern der formalen politischen Partizipation. Die geringe Wahlbeteiligung bei den „Integrationsbeiräten“ in einer Vielzahl der Kommunen – diese liegt teilweise seit Jahrzehnten bei unter 20 Prozent – hat dazu geführt, dass diese Art der Interessenvertretung immer wieder in Frage gestellt wurde. Ist die Funktion der Beiräte tatsächlich „aus der Zeit gefallen“?

Nergiz: Nein, dem würde ich klar widersprechen. Weder sind diese Debatten neu, noch sind die Behauptungen haltbar. Denn die Wahlbeteiligung alleine kann die demokratische Legitimation dieser Beiräte nicht infrage stellen. Sie sind anerkannte Beratungsorgane in den Verwaltungen. Egal ob direkt gewählt oder berufen führen Vertreter*innen eine wichtige politische Interessenvertretung aus. Also: Die Legitimation mit Zahlen zu begründen, ist zu kurz gegriffen. Der Fokus muss viel eher darauf liegen, warum die Beteiligung bei der Wahl so gering ist. 

"Die fehlende Ausstattung mit Ressourcen führt nicht nur zur Resignation über die Sinnhaftigkeit der geleisteten Arbeit, sondern auch dazu, dass diese extern weniger wertgeschätzt oder sichtbar wird. Die Konsequenz: Weniger Anwärter*innen und/oder Wähler*innen."

Dr. Deniz Nergiz

Trotz des steigenden Anteils an Menschen mit Migrationshintergrund geht die Bereitschaft zur Kandidatur und die Wahlbeteiligung zurück – doch warum ist das so? Die Antwort ist in strukturellen Problemen zu finden. Abgesehen von mangelnder materieller und finanzieller Unterstützung für die Integrationsbeiräte durch die Kommunen in Form von Räumlichkeiten und Personal, die besonders im ländlichen Raum fehlen, mangelt es auch an inhaltlicher Unterstützung. Integrationsbeiräte sind ehrenamtlich besetzt. Die Mitglieder müssen sich selbstständig in Verwaltungsprozesse und Regelwerke einarbeiten, dessen Verständnis essentiell für deren beratende Arbeit ist. Die wichtigsten Regelwerke, z. B. Gemeinde- bzw. Landkreisordnungen, Beiratssatzungen in den einzelnen Gemeinden und Landkreisen oder die Instrumente der politischen Arbeit (Anträge, Stellungnahmen, Anfragen, Empfehlungsschreiben) sind jedoch für viele Beiratsmitglieder Neuland. Stadträt*innen bekommen Unterstützung durch fraktionsinterne Schulungen. Auch das hauptamtliche Personal in den Fraktionen liefert stets redaktionelle und fachliche Rückendeckung für die praktische Arbeit über die gesamte Amtsdauer. Von all dem können Beiräte häufig nur träumen – dadurch verringert sich ihre Möglichkeit z.B. in Ausschüssen oder Sitzungen, durch eine starke Beobachterrolle Einfluss auf politische Entscheidungsfindungsprozesse zu nehmen. Das führt nicht nur zur Resignation über die Sinnhaftigkeit der geleisteten Arbeit, sondern auch dazu, dass diese extern weniger wertgeschätzt oder sichtbar wird. Die Konsequenz: Weniger Anwärter*innen und/oder Wähler*innen.

Profession-Politischebildung: Welche konkreten Auswege aus dieser misslichen Lage sehen Sie da?

Nergiz: Der BZI versucht, nun in einem Modellprojekt dieses unausgeschöpfte Potential zu entfalten. Unser Projekt KommPAktiv bietet Maßnahmen, um die Arbeit der Beiräte zu professionalisieren und die Sichtbarkeit ihrer Arbeit zu steigern. Umso besser wäre es natürlich wenn dieser Impuls auch gesetzlich verankert wäre.

Logo: KommPAktiv – Kommunale Integrationsbeiräte qualifizieren, Demokratie stärken (Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat)
Logo: KommPAktiv – Kommunale Integrationsbeiräte qualifizieren, Demokratie stärken (Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat)


KommPAktiv

Das Projekt KommPAktiv des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats macht sich zur Aufgabe, das politische Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund in den Integrationsbeiräten durch Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote, Vernetzung und Austausch sowie Empowerment durch Vorbilder zu fördern und ihre politische Wirksamkeit und Kompetenzen zu stärken. Ziel ist, dass ihre Potenziale mittels einer strukturellen Professionalisierung gebündelt, geschärft und effektiv genutzt werden können.

Integrationsbeiräte bringen die Sicht, das Wissen und die Erfahrung von Migrant*innen in die Integrationspolitik und die Integrationsarbeit ein und leisten wertvolle Arbeit für die gemeinsame Gestaltung der Integrationsprozesse vor Ort. Sie sind politisch legitimierte Vertretungsgremien für Migrant*innen, damit diese auf kommunaler Ebene an Entscheidungsprozessen bezüglich der Integrationspolitik teilhaben und diese mitgestalten können.Derzeit gibt es rund 400 kommunale Beiräte in der Bundesrepublik.

Das Projekt zielt darauf ab, ehrenamtliche Beiräte für Migration und Integration fit für die Kommunalpolitik zu machen und ihnen alle Werkzeuge in die Hand zu geben, die sie für ihre zukünftige Arbeit benötigen. Hierzu bietet das Projekt zunächst für drei Modellregionen- Fortbildungs- und Qualifikationsseminare, so wie Empowerment Workshops an.

Das „Postmigrantische“ als diskursiver oder gar parteipolitischer Anschluss?

Profession-Politischebildung: Naika Foroutan beschreibt und fordert in ihrem viel rezipierten Artikel, dass es eine „postmigrantische Partei“ braucht. Wie stehen Sie zu diesen Forderungen? Verorten Sie das BZI ebenfalls unter diesem Begriff des postmigrantischen?

Nergiz: Grundsätzlich hat Naika Foroutan mit den Prämissen recht. Es gibt zu wenige Mandatsträger*innen mit Migrationshintergrund in den Parlamenten. In der aktuellen Legislaturperiode liegt ihr Anteil bei 11 %, in den Landtagen bei knapp 5%. Auch in Kabinetten vom Land und Bund sind Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert. Derweil macht der Teil der Menschen mit Migrationsbiographie 26% unserer Gesamtgesellschaft aus. So ist es sich natürlich schwieriger, eine vielfältige Gesellschaft zu gestalten, wenn die politischen Vertreter*innen? es selbst nicht sind. Hinzu kommt, dass Themen, die die Vielfalt und Teilhabe betreffen, weiterhin weit unten auf der Agenda stehen, sich migrantische Menschen so weniger von politischen Parteien angesprochen fühlen und weil schlussendlich auch politische Parteien keine Strategien aufweisen, um sich vielfältiger aufzustellen.  

Profession-Politischebildung: Gerade da könnte doch der Begriff des Postmigrantischen Anschlussfähigkeit herstellen und Interessen von migrantischen Personen sichtbarer machen.

Nergiz: Wir als BZI sehen aber die Lösung weniger in einer “postmigrantischen Partei”. Das hat vielerei Gründe: Grundsätzlich fordern wir eine Neuausrichtung und Paradigmenwechsel in den etablierten Parteien, dahingehend die Vertretung der Gesellschaft ernst zu nehmen und migrantischen Politikschaffenden Funktionen und Ämter zuzutrauen. Das schafft Vorbilder und überzeugt gleichzeitig die Wählerschaft, dass ihre Partei sich vielfältig aufstellt und auch so in guten (sogar besseren) Händen ist. Unsere Interviewreihe #VielfaltErZählt mit Politikschaffenden zeigt, wie wichtig Vorbilder für den Mut und Ansporn für politisches Engagement sind. Die sichtbaren Erfolge von diesen Menschen können andere motivieren sich von Hürden und Stolpersteinen auf ihrem Weg in die Politik nicht aufhalten zu lassen.


#VielfaltErZählt: Politikschaffende fordern in einer Interviewreihe des BZI mehr Vielfalt in der Politik!

In einer Interviewreihe unter dem Titel #VielfaltErZählt kommen 14 Politikschaffende und Amtsträger*innen mit Migrations/Fluchtbezug aus Bund und Ländern zu Wort. In der Gesprächsreihe geht es darum, die Erfahrungen der Interviewten als Personen mit Migrationsgeschichte bzw. mit dem politischen Schwerpunkt Migration und Integration in der deutschen Politiklandschaft darzustellen und so die Vielfalt der politischen Akteur*innen, aber auch die Vielfalt der verschiedenen politischen Werdegänge aufzuzeigen.

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Das führt uns zu unserem nächsten Argument, die für eine Öffnung in dem Establishment spricht: Die migrantische oder vielfaltsbejahende Klientel ist nicht homogen und hat neben den gemeinsamen Nenner, den wir bei einer progressiven Einwanderungsgesellschaft verorten können, auch unterschiedliche Werte und Anliegen, was die Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Familie oder Rolle des Glaubens betrifft. Die Gestaltung einer offenen Einwanderungsgesellschaft, das Zusammenwachsen, sehen wir als eine Aufgabe aller Parteien, unabhängig davon wie sie sich zu den weiteren Themen positionieren. Zusammengefasst spricht nichts gegen eine sog. postmigrantische Partei, dennoch bleibt auch hier die Tatsache bestehen, dass kleinere Parteien in unserem politischen System kaum eine Rolle spielen können. Daher meinen wir: Das darf nicht  als Ultima Ratio im Raum stehen, unsere politische Landschaft vielfältig aufzustellen. Damit würden wir es den etablierten Parteien viel zu leicht machen. Wir dürfen nicht nachlassen, es von etablierten Parteien selbst zu fordern und auch durch mehr politischen Engagement in und außerhalb der Parlamente und Parteien anzustoßen. Dieser Logik folgt der BZI mit seiner Arbeit und z.B. bei dem Projekt Politik Akademie der Vielfalt, das Menschen mit Flucht-/Migrationsbiographien fördert ihr Interesse für gesellschaftspolitisches Engagement zu aktivieren und einen potentiellen Weg in die Politiklandschaft zu unterstützen.

Projekterfahrung: Politik Akademie der Vielfalt

Profession-Politischebildung: In Ihrem Projekt Politik Akademie der Vielfalt streben Sie „innovative und niedrigschwellige Formen“ der Teilhabe an. Wie sehen diese aus?

Nergiz: Das Projekt Politik Akademie der Vielfalt fördert Menschen mit Flucht- und/oder Migrationsbiographien ihr Interesse für gesellschaftspolitisches Engagement zu aktivieren und einen potentiellen Weg in die Politiklandschaft zu unterstützen. In diesem Projekt haben wir einen umfassenderen Blick auf die politische Teilhabe, die über das parteipolitische Engagement hinausgeht. Unser Ziel ist es nicht, Vorschulen oder ein Kandidat*innenpool für politische Parteien zu sein. Wir wollen, dass unsere Teilnehmenden politische Teilhabe als einen demokratischen Anspruch Interessen einer offenen Gesellschaft zu vertreten wahrnehmen. Daher kann sich das Projekt als innovativ bezeichnen, weil wir den Anspruch erwägen die Veränderung in der politischen Landschaft vielseitig anzugehen. Deshalb setzen wir auch voraus, dass die Teilnehmenden eigene Projektideen entwickeln, die vielfältige Zielgruppen und Themen ansprechen und dadurch die Sichtbarkeit der Vielfalt in unserer Gesellschaft steigern. Die Projekte müssen auch nicht zwingend in der Politik verortet sein, sondern können sich auch um NGOs handeln oder um zivilgesellschaftliches Engagement. Beispielsweise möchte ein Teilnehmer  integrativ-/interkulturelles theaterpädagogisches Projekt zum Thema „Home – Heimat“ umsetzen.

Politische Interessenvertretung braucht neben Fachwissen und Qualifikationen, die unsere klassischen Maßnahmen beinhalten, auch Ein-/Ausblicke was sich hinter der Kulisse, also Küchen von Denkfabriken passiert, wo/wie ihre Forderungen entstehen und mobilisiert werden. Deshalb fordern wir von unseren Teilnehmenden zwei Hospitationen: eines in einer politischen Struktur (Partei, Behörde, Ministerium, Abgeordnetenbüro usw.) und in einer zivilgesellschaftlichen Organisationen ihrer Wahl. Dabei sollen sie in der praktischen Arbeit über die Schultern schauen und durch diese “Schattenpraktika” Erfahrungen über die realen Interessenvertretung verstehen, in die Netzwerke gelangen und für sich Netzwerke aufbauen. 

Die Rolle der Politischen Bildung

Profession-Politischebildung: Die heutigen Partizipations- und Repräsentation Lücken zeigen auf, dass die im Grundgesetz verbürgte Chancengerechtigkeit oft nicht erfüllt wird. Wo sehen Sie da, ganz grundlegend gefragt, die Rolle der Politischen Bildung?

Nergiz: Die Rolle der Politischen Bildung ist es, Menschen das System nahezubringen und dabei auch auf Lücken hinzuweisen. Politische Bildung muss Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für diese fehlende Chancengerechtigkeit schaffen. Viele, die nicht unmittelbar davon betroffen sind und auch aus biographischen oder sozioökonomischen Gründen privilegiert sind, erkennen diese Lücken nicht und kennen auch diese in der Konsequenz oft nicht. Denn die allen betreffende Konsequenz ist, dass diese Lücken unsere Demokratie schwächen, da die Gestaltungsmacht in kleineren Kreisen bleibt. Die Qualität und Zukunftsfähigkeit einer Demokratie lässt sich nämlich am besten daran bewerten, inwiefern Menschen einbezogen werden, die von den Entscheidungen in ihrem Alltag betroffen sind.
Hinzu kommt, dass politische Bildung oft nur die “Eliten” und ohnehin Interessierten erreicht. Es muss sich also die Frage gestellt werden wie man das ändern kann, um auch Menschen, die das politische System verstehen wollen, dort abzuholen, wo sie stehen und leben. Das heißt politische Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft muss die diversen Lebensverhältnisse berücksichtigen und passgenau Maßnahmen entwickeln, um die nötigen Inhalte zu Demokratiestärkung vermitteln zu können. Dazu gehören mehrsprachige Angebote, alternative Begegnungsorte, aber auch auf der theoretischen Ebene eine diversitätssensible Aufstellung.

"Politische Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft muss die diversen Lebensverhältnisse berücksichtigen und passgenau Maßnahmen entwickeln, um die nötigen Inhalte zu Demokratiestärkung vermitteln zu können."

Dr.in Deniz Nergiz

Eine besondere Wichtigkeit kommt politischer Bildung auch deshalb zu, weil Menschen mit Migrationshintergrund ihre politische Wirksamkeit als sehr gering einschätzen. Das betrifft die externe Selbstwirksamkeit, also wie politische Strukturen ihre Anliegen und Belange betreuen, aber auch die interne politische Selbstwirksamkeit, im einfachsten Sinne über Politik sprechen zu können, sich politisches Engagement zuzutrauen. Die Aufgabe der politischen Bildung aus unserer Sicht ist an dieser Stellschraube zu drehen und die Wirksamkeit zu erhöhen, Räume zu schaffen, in denen Migrant*innen selbstbewusster politisch mitmischen und sich nicht als Sondergruppe fühlen.

Dr. Deniz Nergiz

Dr. Deniz Nergiz

Dr. Deniz Nergiz leitet seit 2018 die Geschäftsstelle des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates (kurz BZI) und dessen Projekte „Strukturförderung" und „Politik Akademie der Vielfalt". In den 17. Und 18. Legislaturperioden arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag, ebenfalls mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik.

Das Gespräch führte David Stein für http://www.profession-politischebildung.de

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