Diversitätsorientierung

in der Politischen Bildung

Von der Ausländerpädagogik zur involvierten Professionalisierung?

Prof.in Alisha M.B. Heinemann beschäftigt sich an der Universität Bremen mit den Themenfeldern der kritischen Erwachsenenbildung, pädagogischer Professionalität in der Migrationsgesellschaft und kritischer Diversitätsforschung. Im Rahmen unserer Fortbildungsreihe skizzierte sie die Möglichkeiten einer diversitätsorientierten Erwachsenenbildung. Hier kann der Vortrag in voller Länge abgerufen werden – dieser steht als Videostream sowie zusätzlich als Abschrift zur Verfügung.

„Liebe Kolleginnen, ich freue mich sehr über die Einladung, heute mit Ihnen meine Gedanken zu einer pädagogischen Professionalisierung in der Migrationsgesellschaft teilen zu dürfen. Im folgenden Vortrag „Von der Ausländerpädagogik zur involvierten Professionalisierung?“ wird es vor allem um die Frage gehen, von welchen Diskursen unser Blick auf die Migrationsgesellschaft geprägt ist, und um Überlegungen, die einen notwendig veränderten Blick auf die eigene pädagogische Praxis möglich machen.

→ Inhalt

Ich gehe zunächst von allgemeinen Überlegungen zur Ver-ANTWORTung der politischen Bildung in unserer Gesellschaft aus und dann konkreter auf die Diskursstruktur ein, von der unser Denken und Handeln gegenüber denen bestimmt ist, die als ‚natio-ethno-kulturell‘ Andere konstruiert werden. Anschließend skizziere ich die daraus entstehende Spiegelfigur des ‚Wir‘, um dann genauer auf die Ausrichtung des pädagogischen Blicks und damit auf die involvierte Professionalisierung eingehen zu können. Ich schließe mit konkreten Überlegungen zur Praxis von Institutionen, wobei ich während des Vortrags noch überwiegend auf der Metaebene bleibe. Konkret wird es dann hoffentlich in den folgenden Diskussionen in den Arbeitsgruppen.

Die Ver-ANTWORTung von Bildungsinstitutionen

Beginnen wir nun zunächst mit der grundsätzlichen Frage nach der Ver-ANTWORTung von Bildungsinstitutionen. Welche demokratische Aufgabe haben diese zu übernehmen, wenn beispielsweise aktuell jedes Wochenende tausende von Menschen Seite an Seite mit Neonazis und Reichsbürgern auf die Straße gehen? Regenbogen neben Schwarz-Weiß-Rot – das sollte Akteure der politischen Bildung unbedingt in Aufruhr versetzen!

"Welche demokratische Aufgabe haben Bildungsinstitutionen zu übernehmen, wenn beispielsweise jedes Wochenende tausende von Menschen Seite an Seite mit Neonazis und Reichsbürgern auf die Straße gehen? Regenbogen neben Schwarz-Weiß-Rot – das sollte Akteure der politischen Bildung unbedingt in Aufruhr versetzen!"

Prof.in Alisha M.B. Heinemann

Nach Antonio Gramsci1, dem großen italienischen Hegemonietheoretiker, ist jedes gesellschaftliche Verhältnis in erster Linie ein pädagogisches Verhältnis. Was heißt das konkret für unsere aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse? Die westliche Gesellschaft ist eine Migrationsgesellschaft – und dies nicht erst seit der Zunahme von Fluchtbewegungen im 21. Jahrhundert. In westlichen Demokratien wird dies zunehmend als Tatsache anerkannt und verhandelt, während zugleich die immer weiter erstarkenden rechten nationalistischen Kräfte gegen die Akzeptanz dieser Realität vorgehen: aktuell beispielsweise in den USA mit brutaler und noch nicht einmal mehr verschleierter Staatsgewalt und in Europa mit immer neuen beschämenden menschenverachtenden Aktionen an der Mittelmeergrenze. Um der Tatsache von Migration gerecht zu werden, sich auf die damit einhergehenden Anforderungen einzustellen und verantwortlich in politischen Auseinandersetzungen Positionen beziehen zu können, bedarf es in erster Linie Bürger*innen, die demokratisch handeln können. Hier kann Bildung, die es ermöglicht, ein kritisch-reflexives Selbst- und Weltverhältnis zu entwickeln und dabei ethische Grundwerte vermittelt, deren Grundlagen von einem Gerechtigkeitsdenken geprägt sind, einen wesentlichen Beitrag leisten. Antonio Gramsci beschäftigt sich zentral mit der Rolle von Bildung im Kontext der Transformation von Gesellschaft. Das Bildungskonzept Gramscis kann als Theorie der Mündigkeit verstanden werden, in der Selbstpotenzierung durch Bildung und kritische Erneuerung des Alltagsverstands zusammengeführt werden. Ziel seines pädagogischen Konzepts ist die Transformation von Hegemonie, also eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse, weswegen jene Gruppen, die bisher marginalisiert sind, der Hegemoniefähigkeit bedürfen, die nur über komplexe Bildungsprozesse zu erreichen ist. Ziel einer hegemoniekritischen Erwachsenenbildung müsste es sein, Bildung und politische Praxis als kritische Instrumente der Selbstpotenzierung des Menschen zusammenzudenken. Um dies zu tun, ist es notwendig, auch rassismuskritische Perspektiven zu ergänzen. Rassismuskritische Perspektiven fokussieren in einer besonderen Weise die Frage, auf welche Weise Migrationsgesellschaften durch rassistische Praxen strukturiert sind und machen es somit möglich aufzuzeigen, wie auch pädagogische Praxis in diese Strukturen involviert ist und diese reproduziert. Aber auch, wie sie diese irritieren kann.

Der Diskurs um die ’natio-ethno-kulturell‘ Anderen – Ausländerpädagogik

Oskar Negt sagt: „Demokratie ist die einzige Staatsform, die gelernt werden muß.“2 Wir wissen, dass auch viele Erwachsene hier einen Lernbedarf haben. Bildungseinrichtungen dürfen sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Eine hegemoniekritische Bildung zeichnet sich dabei insbesondere dadurch aus, dass sie Subjektivierungen ernst nimmt. Wie kommt es dazu, dass Subjekte ihrer eigenen Unterwerfung zustimmen? Wie ist es möglich, ein Begehren zu wecken, aktiv in demokratische Prozesse einzugreifen? Und schließlich: Wie kann ein tieferes Verstehen komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglicht werden? Die rassismuskritische Perspektive wiederum fokussiert hier vor allem auf einen Teilbereich der die soziale Praxis bestimmenden Verhältnisse: nämlich den, in dem ‚natio-ethno-kulturelle‘ Unterscheidungsordnungen wirken. Sie geht davon aus, dass dieser Teilbereich gesamtgesellschaftlich strukturierend wirkt. Der Begriff der ‚natio-ethno-kulturellen‘ Unterscheidungsordnung bringt uns hier zum zweiten Punkt: nämlich der Herstellung von Differenzkategorien in einer Gesellschaft, die eine Teilung in ‚Wir‘–‚Ihr‘-Kategorien ermöglicht. Wir stellen beständig Differenzen her. Wir unterscheiden zwischen männlich und weiblich, reich und arm, deutsch und nicht-deutsch, hetero-, homosexuell oder gleich queer. Wenn wir von Migrationsgesellschaft sprechen, dann ist eines der wichtigsten Unterscheidungen die zwischen denen, die zu ‚uns‘, zu den Deutschen, zu der Weißen Mehrheitsgesellschaft gehören und den ‚Anderen‘. Das sind alle die, die eventuell einen anderen Pass haben, anders aussehen als wie der Standard-Deutsche und scheinbar eine andere als die deutsche Leitkultur ihre eigene nennen. ‚Natio-ethno-kulturell‘ Andere eben, wie Paul Mecheril3 sie bezeichnet.

Die Ursprünge für diese Unterscheidung liegen, wie verschiedentlich nachgewiesen werden konnte, in der Kolonialzeit. Die Kolonialzeit war gleichzeitig auch die Zeit der Aufklärung: Alle Menschen sollten frei und gleich an Rechten aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herausgeführt werden. Gleichzeitig wurde ein großer Teil der Menschen ausgebeutet, unterdrückt und versklavt. Dazu brauchte es Begründungen, Legitimation – Legitimationsdiskurse, die bis heute nachwirken. Ein wichtiges Konzept, das in dieser Zeit entwickelt wurde, ist das Konzept der Nation und damit auch die Frage, wer zu dieser Nation dazugehört und wer nicht. Stuart Hall hat in seinem Text „The West and the Rest“4 sehr eindrücklich die Diskurse beschrieben, die den Westen als fortschrittlich und zivilisiert darstellen – in Abgrenzung zum Rest der Welt, dem geholfen werden müsse, um sich aus seiner rückständigen Traditionalität zu befreien. Ein Argument, das nicht nur all denen, die sich mit der sogenannten Entwicklungshilfe beschäftigen, bekannt vorkommen sollte.

"Die durch die Grenz- und Sicherheitsdiskurse erzeugten Ängste führen zu noch mehr Abwehr und Spaltung und stärken die Hegemonie der etablierten weißen männlichen Mittelschicht. Sie führen zu den Szenen, die wir aktuell im Mittelmeer beobachten können.

Prof.in Alisha M.B. Heinemann

Zygmunt Bauman5 beschreibt in seinen Ausführungen zu Globalisierung und dem sogenannten verworfenen Leben einen anderen zentralen Diskursstrang, nämlich den der Nützlichkeit. Solange die Menschen am kapitalistischen Arbeitsmarkt in irgendeiner Form sinnvoll verwertbar sind, gehören sie zu den ‚Nützlichen‘, den Guten. Alle anderen gelten als Bedrohung des Sozialstaats und damit auch als Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hier ist die Studie von Holger Bonin6 sehr interessant, der mit Zahlen aus 2012 zeigen kann, dass – wenn alle Sozialtransfers inklusive der Ausgaben für Bildung und Bildungsförderung zusammengerechnet werden und ins Verhältnis gesetzt werden zu den Steuern und Abgaben, die die Gruppe der sogenannten Ausländer*innen im gleichen Jahr gezahlt hat – 3.300 Euro Nettogewinn pro Kopf für den deutschen Staat übrig bleiben. Statt dieser Informationen, dass Menschen mit dem Status ‚Ausländer‘ den Sozialstaat entlasten, kursieren Droh- und Zerrbilder von kriminellen Terroristen und Sexualstraftätern.

Diese durch die Grenz- und Sicherheitsdiskurse erzeugten Ängste führen zu noch mehr Abwehr und Spaltung und stärken die Hegemonie der etablierten Weißen männlichen Mittelschicht. Sie führen zu den Szenen, die wir aktuell im Mittelmeer und gerade gestern wieder in Moria beobachten konnten. Auf lokaler alltäglicher Ebene führen sie zu Misstrauen und Diskriminierungen im Alltag und Ausschlüssen eben auch in Bildungszusammenhängen. Wenn wir uns mit Foucaults Machtkonzept7 anschauen, wer den Diskurs wie beeinflusst, wer also bestimmen kann, was ‚richtig‘ ist und was ‚falsch‘ ist, ist es kein Wunder, dass wir heute hier alle zusammen sein können und uns dabei relativ gut fühlen, während gleichzeitig an den europäischen Grenzen, also quasi direkt vor unserer Haustür, Menschen sterben. Die Ausländerpädagogik ist also eine Pädagogik, die von diesen Legitimationsdiskursen durchzogen ist. Es gibt ein ‚Wir‘, das auf ‚die Anderen‘ schaut und versucht es zu dem zu machen, was ‚wir‘ optimalerweise gerne wären.

Wer sind ‚Wir‘?

Wer sind denn nun eigentlich ‚Wir‘? Ferdinand de Saussure8 konnte zeigen, dass alles, was wir beschreiben, was wir benennen, immer in Abgrenzung zu etwas Anderem passiert. Ein Apfel ist zum Beispiel ein Apfel und keine Pflaume, weil er härter, größer und grüner ist als eine Pflaume. Wir haben die Pflaume hier als Norm gesetzt und den Apfel in Abgrenzung dazu beschrieben. Das Gleiche passiert, wenn das nationale ‚Wir‘ versucht, sich selbst zu finden. Wenn ‚Andere‘ angeblich traditionell, unterdrückt, emotional und chaotisch sind, sind ‚Wir‘ modern, emanzipiert, rational und organisiert. Wir nutzen ‚die Anderen‘ also als Spiegel, um das eigene ‚Wir‘ daran zu definieren. Das ‚Wir‘ bildet dabei die Norm und als hegemoniales ‚Wir‘ hat es sogar das Privileg, noch nicht einmal darüber nachdenken zu müssen, dass das, was da passiert, ein gewaltvoller Akt der hierarchisierenden, homogenisierenden, diskriminierenden Zuschreibungen ist. „Privilege is when you think something is not a problem because it is not a problem to you personally…“9

Die Ausrichtung des pädagogischen Blicks – Involvierte Professionalisierung

Kommen wir nun zur Ausrichtung des pädagogischen Blicks. Was bedeutet all das, was wir bis hierhin gehört haben für unsere pädagogische Arbeit? Es bedeutet in erster Linie, den Fokus zu verändern. Es geht nicht so sehr darum, auf die Teilnehmenden zu schauen, auf ‚die Anderen‘ zu schauen, sondern darum, sich damit zu beschäftigen, welchen Beitrag ich selber in dieser Gesellschaft, in den vorhandenen Strukturen, in den Diskursen leiste und wo ich selber darin positioniert bin und wie ich auch selber darin involviert bin. Der Blick geht also auf mich als Pädagogin, auf mich als Pädagoge. Der Begriff, den Astrid Messerschmidt10 dafür geprägt hat, ist der Begriff der involvierten Professionalisierung. Das Kernstück involvierter Professionalisierung ist die Fähigkeit zur geleiteten Selbstreflexion. Und dabei geht es nicht nur darum, über mich selber nachzudenken, sondern über mich selber im Verhältnis zu den Strukturen, innerhalb derer ich mich bewege. Fragen, die ich mir stellen kann, sind also „Wie sind eigentlich die Machtverhältnisse, innerhalb derer ich mich bewege? Wie sind die strukturiert?“, „Wer spricht um mich herum über wen, also in den Medien zum Beispiel, im Kollegienkreis, im Seminarraum und wer findet dabei Gehör?“, „Wer bestimmt also den hegemonialen Diskurs?“ und auf der anderen Seite „Wessen Anliegen kommen eigentlich gar nicht vor?“. Aktuell könnten wir uns zum Beispiel anschauen, wer sitzt im Ausschuss für Rechtsextremismus und Rassismus und wer nicht und wird höchstens kurz mal vorgeladen, um einen kurzen Beitrag zu leisten, um dann aber auch wieder zu gehen. „Wer gehört also zum ‚Wir‘ und wem wird das Dazugehören abgesprochen?“ Gayatri Chakravorty Spivak11 hat ein Konzept beschrieben, wo sie beschreibt, dass es auch sehr wertvoll ist, die eigenen Privilegien als Verlust zu erkennen, weil wenn ich über bestimmte Privilegien verfüge, fehlen mir auch bestimmte Erfahrungen und damit auch ein bestimmtes Wissen, das wiederum andere Möglichkeitsräume eröffnen würde.

Meine Studentin Inka Bartel hat im letzten Semester Zeichnungen zur Frage der involvierten Professionalisierung erstellt, sich selber in die Mitte gestellt und dann verschiedene Fragen drum herum gesetzt; zum Beispiel ganz oben „Ich bin involviert in migrationsgesellschaftliche und postkoloniale Machtverhältnisse und habe zum Beispiel aufgrund meiner Hautfarbe eine privilegierte Position.“ Dabei fragt sie sich: „Wie [re]produziere ich eigentlich hierarchische soziale Ordnungen? Und gebe ich eigentlich Raum außerhalb von dichotomen Kategorien? Wie kann ich Differenzen anerkennen, ohne Zuschreibungen vorzunehmen?“ Oder auch auf der rechten Seite der Folie: „Wie reflektiere und begegne ich darüber hinaus eigentlich machtvollen institutionellen Manifestationen?“

Konkret in der Praxis

Die Frage der Institution ist ein guter Übergang zur nächsten Folie: Hier geht es dann konkret um die institutionelle Praxis. Auf welchen Ebenen sollten wir uns anschauen, wie unsere Öffnungsprozesse, unsere Professionalisierungsprozesse eigentlich voranschreiten in der Institution? Das ist natürlich einmal die Ebene der Leitung. Ohne die Mitarbeit der Leitung ist es extrem schwierig, change management, also Veränderungsprozesse in einer Organisation voranzubringen. Wir müssen uns ganz selbstverständlich anschauen, wer arbeitet eigentlich in dieser Institution und mit welchen Privilegien und welchen Erfahrungen beziehungsweise welchen fehlenden Erfahrungen sind meine Kollegen um mich herum eigentlich – und auch ich selbst – ausgestattet. Die Ebene der Programmgestaltung – klar. Aber eben auch zu Ebenen, die nicht so offensichtlich sind, wie zum Beispiel die Ebene der Raumgestaltung: Gibt es eigentlich die Möglichkeit, auch mit einem Rollstuhl teilzunehmen? Sind die WCs barrierefrei? Aber sind die WCs auch gender-neutral zum Beispiel oder gibt es zumindest eins, wo auch eine trans*-Person zum Beispiel sich wohlfühlt? Dann auf der Ebene der Öffentlichkeitsarbeit: Wen spreche ich eigentlich an? Welche Bilder, wessen Bilder befinden sich auf meinen Flyern? Mit wem, mit welchen Organisationen hat meine Institution Kooperationen und Netzwerke? Und schließlich, nicht zuletzt auch auf der Ebene des Controllings beziehungsweise des Qualitätsmanagements, was inzwischen ja in fast allen Institutionen Standard ist, aber eben auch genau diese Fragen von Öffnung, von Reflexion über die Verhältnisse, innerhalb derer sich die Institution bewegt, abbilden sollte.

Ich habe zwei Beispiele aus Toronto, Kanada, mitgebracht, wo ich im letzten Jahr eine Zeit verbracht habe. Das zeige ich jetzt im Folgenden: Das sind zwei Plakate, die ich dort fotografiert habe – links den „Positive Space: This is a place where human rights are respected and where lesbian, gay, bisexual, trans, two spirit and queer people, and their friends and allies, are welcomed and supported.“ Und dieser „Positive Space“-Button war im gesamten Gebäude überall zu sehen der Universität, in der ich mich befand. Und das hat einfach ein sehr sehr schönes Gefühl gegeben, das so überall zu sehen. Oder das „Family Care Office“, das – wie Sie hier an der Bebilderung sehen – einfach gleich mal die verschiedensten Varianten von Familie mit aufgenommen hat. Es geht dann nicht darum, eine Sondergeschichte abzubilden („Ah ja okay, du bist queer, du sitzt im Rollstuhl, ihr seid lesbisch, okay, für euch kriegen wir das auch irgendwie hin, für euch finden wir auch ein Angebot oder bestimmt eine Beraterin, die sich eventuell auch damit auskennt…“), sondern es ist einfach selbstverständlich. „Du bist schon vorne mit auf dem Plakat drauf.“ Das sind – klar, kann man jetzt entgegnen – vielleicht eher so kosmetische Dinge: Wenn sich die Grundstruktur dahinter nicht ändert, dann hilft das auch nichts. Aber: Es sind immerhin erste Schritte.

Schlussplädoyer

Bevor wir nun in die Arbeitsaufgaben gehen gleich, schließe ich mit einem Plädoyer, sich der Verantwortung der politischen Bildung in der Migrationsgesellschaft dringend und mit voller Vehemenz zu stellen: Demokratische Grundwerte schützen wir nicht, indem wir Integrationskurse für Zugezogene anbieten, sondern indem wir uns selbst von den gewaltvollen Strukturen, die auf uns zugreifen, zu befreien suchen. Wir müssen Begriffe haben und abstrakt denken lernen, um sie zu erkennen. Wir müssen widersprechen lernen – gerade, wenn Dinge allzu selbstverständlich erscheinen. Wir müssen lernen, dass es nicht um Toleranz, sondern um Respekt füreinander geht. Ich plädiere daher für eine Bildung, die eine Politik der Unruhe erzeugt. Eine Unruhe, die es ermöglicht, totalitären Impulsen zu widerstehen; eine Unruhe, die es unmöglich macht, Seite an Seite mit Neonazis und Reichsbürgern gegen Corona-Maßnahmen zu protestieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“

Prof.in Alisha M.B. Heinemann

Prof.in Alisha M.B. Heinemann

Prof.in Alisha M.B. Heinemann beschäftigt sich an der Universität Bremen mit den Themenfeldern der kritischen Erwachsenenbildung, pädagogischer Professionalität in der Migrationsgesellschaft und kritischer Diversitätsforschung.

1 Gramsci, Antonio (1991ff.). Gefängnishefte, Heft 10 (§ 44). Hamburg: Argument. []

2 Negt, Oskar (2004). Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen. In: Klaus-Peter Hufer & Imke Scheurich (Hrsg.), Positionen der politischen Bildung 2. Ein Interviewbuch zur außerpolitischen Jugend- und Erwachsenenbildung (S. 196-213). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. []

Mecheril, Paul (2003). Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit (S. 23-27). Münster u.a.: Waxmann. []

Hall, Stuart (1992). The West and the Rest: discourse and power. In: Stuart Hall (Hrsg.), Formations of modernity (S. 275-295), reprinted. Cambridge: Polity Press u.a. []

Bauman, Zygmunt (2005). Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition, Bonn: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. []

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) & Bonin, Holger (2014). Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt. []

7 Foucault, Michel (2017). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France, 1977-1978. Geschichte der Gouvernementalität, Band 1, 5. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1808). []

de Saussure, Ferdinand (1967 [1916]). Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter. []

9 Gaider, David (2013). Sex in Video Games, GDC talk, online unter: https://www.gdcvault.com/play/1017796/Sex-in-Video (zuletzt: 23.09.2020). []

10 Messerschmidt, Astrid (2016). Involviert in Machtverhältnisse. In: Aysun Doğmuş & Yasemin Karakaşoğlu & Paul Mecheril (Hrsg.), Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. []

11 Gross, Elizabeth & Spivak, Gayatri Chakravorty (1999). Criticism, Feminism, and the Institution. An interview with Gayatri Chakravorty Spivak. In: Bruce Robbins (Hrsg.), Aesthetics, politics, academics (S. 153–172). Minneapolis: Univ. of Minnesote Press (Cultural politics, 2). []

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