WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Widersprüche aushalten lernen. Mit Ambiguitätstoleranz gegen Verschwörungsideologien

Das demokratiegefährdende und antisemitische Potenzial von Verschwörungsideologien wurde lange unterschätzt. Politische Bildungsarbeit, die für dieses Potenzial sensibilisieren und der Verbreitung dieser widerspruchsfreien Deutungsmuster entgegenwirken möchte, muss es sich zur Aufgabe machen, Ambiguitätstoleranz zu vermitteln und selbst zu praktizieren.

Einleitung

Verschwörungsideologien1 – vor einigen Jahrzehnten noch als Randgruppenerscheinung belächelt – rücken sie in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der medialen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Spätestens seit der massiven Verbreitung von Verschwörungsideologien im Zuge der Corona-Pandemie wird deutlich, dass sie kein harmloses Randphänomen sind, sondern eine Gefahr für die Demokratie darstellen.

→ Inhalt

Politische Bildungsarbeit, die sich mit Verschwörungsideologien beschäftigt, hat sich zur Aufgabe gemacht, in der Zivilgesellschaft ein Bewusstsein für das demokratiegefährdende und antisemitische Potenzial zu schaffen, welches von verschwörungsideologischen Narrativen ausgeht. So auch das Projekt No World Order der Amadeu Antonio Stiftung, dessen Perspektive sich in folgenden Ausführungen wiederfindet.

Verschwörungsideologien als Krisenbewältigungsstrategie?

Verschwörungsideologien sind kein neues Phänomen, sondern begleiten die Menschheit schon seit Jahrhunderten. Sie bieten einfache Erklärungen und Lösungsangebote für komplexe gesellschaftliche Problemlagen und Missstände. Es wundert daher nicht, dass sich während einer globalen Pandemie mehr Menschen Verschwörungserzählungen zuwenden. Das Phänomen als reine Krisenbewältigungsstrategie zu begreifen, würde es jedoch verharmlosen. Um angemessen mit Verschwörungsideolog*innen umgehen zu können, sollten diese in ihrer Einstellung ernst genommen und nicht pathologisiert oder als „Spinner“ bezeichnet werden. Die Empfänglichkeit für verschwörungsideologische Narrative beschränkt sich schließlich nicht auf eine gesellschaftliche Randgruppe, sondern zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten.2

Der Glaube an die Verschwörung wird dem Erkenntnisprozess vorangestellt

Um in der Bildungsarbeit den kritischen Umgang mit Verschwörungsideologien zu schulen, braucht es das Wissen um die Struktur von Verschwörungsideologien und Kenntnisse über die Funktionen, die sie für die Individuen erfüllen. Nach dem Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber sind Verschwörungsideologien eine „festgefügte, monokausale und stereotype Einstellung“, die sich nach außen hin gegen Kritik abschottet. Dabei wird einer oder mehreren real bestehenden Gruppierungen unterstellt, im Geheimen die (Welt-)Geschehnisse zu manipulieren. Es kann sich hier unter anderem um politische oder wirtschaftliche Ereignisse, nationale und globale Krisen bzw. Katastrophen handeln. Andere mögliche Ursachen als die erdachte Verschwörung werden ausgeblendet. Wird nicht von einer real bestehenden, sondern von einer fiktiven Gruppierung gesprochen, so handelt es sich um einen Verschwörungsmythos.

"Der Glaube an die Verschwörung wird dem Erkenntnisprozess vorangestellt. Dieser Glaube ist die Prämisse, auf der sämtliche Erkenntnisse fußen."

Beide Kategorien haben idealtypischen Charakter, sind also schwer trennscharf zu unterscheiden. Gegenbeweise werden in beiden Fällen zurückgewiesen oder als Beleg für den Einfluss der angeblichen Verschwörer*innen gewertet. Der Glaube an die Verschwörung wird dem Erkenntnisprozess vorangestellt. Dieser Glaube ist die Prämisse, auf der sämtliche Erkenntnisse fußen.3

Manichäismus und projektiver Charakter führen in eine widerspruchsfreie Parallelwelt

Verschwörungsideologien scheitern am Versuch, sozialstrukturelle Prozesse differenziert zu analysieren und zu kritisieren. Statt die soziale Realität in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu erfassen, werden gesellschaftliche Machtverhältnisse personifiziert und die Welt dualistisch in gut und böse eingeteilt (manichäisches Weltbild)4. Belastende oder unliebsame Entwicklungen werden auf die Gruppe der scheinbaren Verschwörer*innen projiziert. Durch die Charakterisierung dieser Gruppe als genuin böse, wird die Identität derer gestärkt, die sich selbst der Gruppe der Aufgewachten, also den guten Mächten zugehörig fühlen. Gleichzeitig kann durch die Dämonisierung einer Fremdgruppe Gewalt gegen diese legitimiert werden.

Zur antisemitischen Struktur von Verschwörungsideologien

Durch den projektiven Charakter und das manichäische Weltbild von Verschwörungsideologien wird eine widerspruchsfreie und antidemokratische Parallelwelt konstruiert5. Diese beiden Eigenschaften sind es auch, welche Verschwörungsideologien strukturell mit dem Antisemitismus verbinden. Juden und Jüdinnen dienen schon seit Jahrtausenden als Projektionsfläche, wenn es darum geht, komplexe Wirkmächte zu personifizieren und Schuldige für das Leid der Menschen auszumachen6. Das antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung hält sich bis heute und wird beispielsweise in der Verschwörungserzählung von der Neuen Weltordnung (New World Order / NWO) bedient. Hier wird die weltweite Verschwörung einer globalen Elite herbeifantasiert, welche den Plan haben soll, die Weltbevölkerung zu unterwerfen und eine totalitäre Welt-Regierung zu errichten. Die Verschwörungsideologie beruft sich dabei auf die fiktiven, antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“. Verschwörungserzählungen müssen sich nicht explizit auf Juden und Jüdinnen beziehen, um antisemitisch zu sein. Denn: seit der Shoah bedient sich der moderne Antisemitismus einer sogenannten Umwegkommunikation, um nicht sanktioniert zu werden. So wird in Verschwörungsideologien oft auf antisemitische Codes und Chiffren zurückgegriffen, wenn von „den Rothschilds“, „der Hochfinanz“ oder „den mächtigen Eliten“ gesprochen wird.7

Mit Ambiguitätstoleranz gegen Verschwörungsideologien

Die stark identitätsstiftende Funktion von Verschwörungsideologien und deren Rückgriff auf gesellschaftlich tief verankerte antisemitische Ressentiments, führen dazu, dass Verschwörungsideologien schwierig zu dekonstruieren sind. Mit Argumenten und Debunking8 kommt man in der Diskussion mit Verschwörungsideolog*innen, deren Weltbild bereits geschlossenen ist, selten weit. Auch wenn Debunking in gewissen Bereichen, beispielsweise auf Social Media, wichtig und wirksam ist – in der politischen Bildung sollte es vielmehr darum gehen, Individuen dazu zu befähigen, gesellschaftliche Widersprüche auszuhalten und gleichzeitig Kritik an den Verhältnissen üben zu können. Kurz: die Ambiguitätstoleranz (oder Widerspruchstoleranz) sollte gefördert werden. Nur so kann verhindert werden, dass der Wunsch nach widerspruchsfreien Deutungsangeboten und autoritärer Führung lediglich durch einen neuen Platzhalter ersetzt wird. Ich folge hier der These von Melanie Hermann, Florian Eisheuer und Jan Rathje, die bei der Amadeu Antonio Stiftung zu Verschwörungsideologien und Antisemitismus arbeiten bzw. gearbeitet haben. Sie argumentieren in ihrem Artikel „Politische Bildungsarbeit für eine »Gesellschaft der Mündigen«“ mit Adorno für eine „Erziehung zur Mündigkeit“ und die Stärkung der Ambiguitätstoleranz.

Eine „Erziehung zur Mündigkeit“ fördert in den Individuen die Fähigkeit, sich des Spannungsfelds zwischen der Widersprüchlichkeit der Gesellschaft und der Widersprüchlichkeit der Kritik bewusst zu werden. Dafür braucht es die Stärkung der Ambiguitätstoleranz. Das Konzept der Ambiguitätstoleranz selbst geht zurück auf die Arbeiten von Else Frenkel-Brunswick9 und wurde 1949 im Rahmen der Studien zum Autoritären Charakter entwickelt. Es beschreibt die Fähigkeit, Widersprüche und Unbestimmtheiten auszuhalten und mit gesellschaftlichen und persönlichen Ambivalenzen und Rollenerwartungen umgehen zu können. Aus einer ambiguitätstoleranten Position kann das Individuum im besten Fall erkennen, unter welchen Umständen oder gesellschaftlichen Verhältnissen es konkret leidet, anstatt das eigene Unbehagen auf angebliche Verschwörer*innen zu projizieren. Für die politische Bildungsarbeit bedeutet dies, der Zielgruppe „nicht ideologisch zu begegne[n], sondern mit Aufklärung in ihrem besten Sinne“10. Das heißt, die Individuen sollten zur (Selbst-)Reflexion und einem selbstbestimmten Erkenntnisprozess angeregt werden. Um diesen garantieren zu können, sollte Bildungsarbeit transparent gestaltet werden: Schlussfolgerungen und deren gesellschaftliche Relevanz müssen für die Adressat*innen nachvollziehbar gemacht werden.

"In der politischen Bildung sollte es darum gehen, Individuen dazu zu befähigen, gesellschaftliche Widersprüche auszuhalten und gleichzeitig Kritik an den Verhältnissen üben zu können. Kurz: die Ambiguitätstoleranz (oder Widerspruchstoleranz) sollte gefördert werden."

Ambiguitätstoleranz sollte sowohl Bildungsziel als auch Bildungsansatz sein. Das bedeutet für politische Bildner*innen, diese nicht nur zu vermitteln, sondern selbstkritisch zu praktizieren und einzuüben11. Bildungsarbeit, die sich kritisch mit antisemitischen Verschwörungserzählungen auseinandersetzt, sollte Autoritarismus als Konzept von sich weisen. Schließlich geht es nicht darum „sich im Wettkampf der Informationen durchzusetzen, um eine Anhängerschaft der richtig-gläubigen Demokrat*innen an sich zu binden“.12

Politische Bildungsarbeit, die einen ambiguitätstoleranten Bildungsansatz verfolgt, sollte die gesellschaftliche Verfasstheit von antisemitischen Verschwörungsideologien in ihre Kritik aufnehmen. Verschwörungsideologien sind kein Phänomen, das außerhalb der Gesellschaft steht, vielmehr ist es dieser Gesellschaft inhärent13. Wer dies anerkennt, der ist weniger geneigt, selbst Dichotomien aufzumachen und Verschwörungsideolog*innen als „Covidioten“ abzuwerten. Solch ein Umgang führt die zweigeteilte Logik von Gut und Böse als Wissende und Unwissende implizit weiter auf, anstatt eine Perspektive zu öffnen, die allen Menschen Wissenslücken, Widersprüchlichkeiten und Lernprozesse zugesteht. Hier ist es auch notwendig, die Grundlagen wissenschaftlicher Prozesse verstehbar zu machen, um zu verdeutlichen, dass wissenschaftliche Fakten und Wissen zwar von Menschen produziert werden und dementsprechend fehlbar, prozesshaft oder systematisch beeinflusst sein können – Wissenschaftlichkeit und wissenschaftliche Wahrheiten sich aber gerade aus der Annahme und Reflektion dieses Prozesses ergeben. Das bedeutet verstehbar zu machen, dass Wissensproduktion gerade darauf fußt, sich selbst zu hinterfragen, kritisieren zu lassen und auf der Basis des Dialoges mit anderen Positionen Wissen auszubauen.

Bildungsmaterialien

Damit Individuen, bzw. die Adressat*innen in diesen Dialog gehen können, sollten sie dazu ermutigt werden, ihren eigenen politischen Standpunkt zu finden und sich zu gesellschaftlichen Widersprüchen, wie beispielsweise sozialer Ungleichheit, zu verhalten. Von dieser Perspektive aus kann auch das verschwörungsideologische Weltbild sinnvoll kritisiert werden. In der Praxis eignet es sich, dies anhand der Auseinandersetzung mit den Funktionen und Strukturen von Verschwörungsideologien einzuüben14. So kann auch in der Diskussion mit Verschwörungsideolog*innen vermieden werden, nur reflexartig die gegenseitige Position einzunehmen. Stattdessen kann abgefragt werden, welches Weltbild hinter den Äußerungen steht und auf welche Prämissen und gesellschaftlichen Ideale sich (nicht) geeinigt werden kann.

Fazit

Das hier dargelegte Bildungsverständnis bildet die Grundlage für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit des Projekts No World Order. Die konkrete Vermittlung von Ambiguitätstoleranz dient jedoch weniger als Bildungsziel, vielmehr wird das Konzept als Bildungsansatz verstanden. Darauf aufbauend werden Angebote und Methoden entwickelt, die einen kritischen Blick auf das Phänomen Verschwörungsideologie werfen.

Kritische Bildungsarbeit muss sich den antidemokratischen und antisemitischen Tendenzen unserer Zeit annehmen und diesen entgegenwirken. Der soeben beschriebene Bildungsansatz kann dabei helfen, die Ambiguitätstoleranz in der Zivilgesellschaft zu stärken und damit dem Bedürfnis nach autoritärer Führung vorzubeugen. Er ist nicht nur für Projekte geeignet, die sich explizit mit Verschwörungsideologien und Antisemitismus auseinandersetzen. Vielmehr kann dieser Ansatz für sämtliche Bildungsangebote fruchtbar gemacht werden. Beispielsweise durch kommunikative Praxis, also dialogische und fragende Ansätze, die eigene Unsicherheiten, Wissenslücken und Erkenntnisprozesse transparent machen. Dies bedeutet für politische Bildner*innen, auf Unsicherheiten und Widersprüche nicht mit vorschnellen, einfachen Antworten zu reagieren und zu sich selbst eine fragende und reflexive Haltung anzunehmen.

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Aileen Mirasyedi

Aileen Mirasyedi ist freie Bildungsreferentin. 2020 hat sie zusammen mit dem Projekt No World Order der Amadeu Antonio Stiftung digitale Bildungsangebote zu Verschwörungsideologien und Antisemitismus gegeben. Sie forscht im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Jena zu Verschwörungsideologien und Antifeminismus.

In vielen Veröffentlichungen und journalistischen Beiträgen ist der Begriff Verschwörungstheorie geläufig. Der Theoriebegriff ist hier jedoch irreführend, suggeriert er schließlich eine Nähe zur Wissenschaftlichkeit, welche Verschwörungserzählungen de facto nicht haben. Daher nutze ich den Begriff Verschwörungsideologie. []

2 Nachtwey, Oliver; Frei, Nadine; Schäfer, Robert (2020): Politische Soziologie der Corona-Proteste, Basel, online abrufbar unter: https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f (Zugriff am 01.06.2021) []

3 Pfahl-Traughber, Armin (2002): „Bausteine“ einer Theorie über „Verschwörungstheorien“. Definitionen, Erscheinungsformen, Funktionen und Ursachen, in: Reinalter, Helmut (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck, S. 30–44. []

4 Butter, Michael (2018): „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien, Berlin. []

5 Rathje, Jan; Kahane, Anetta; Baldauf, Johannes; Lauer, Stefan (2015): „No world order“: wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt verklären. Amadeo Antonio Stiftung (Hrsg.), online abrufbar unter URL: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/08/verschwoerungen-internet-1.pdf (Abfrage: 01.06.2021) []

6, 7 Uhlig, Tom (2017): Abgründe der Aufklärung. Über Verschwörungstheorien als antisemitisches Zerrbild der Ideologiekritik, in: Grünberg, Kurt; Leuschner, Wolfgang; Initiative 9.November (Hrsg.): Populismus. Paranoia. Pogrom. Affekterbschaften des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M., S. 155-172. []

Debunking, zu Deutsch „entlarven“, bezeichnet eine Methode zur Widerlegung von Verschwörungshypothesen. []

Frenkel-Brunswik, Else (1996): Studien zur autoritären Persönlichkeit. Ausgewählte Schriften. Wien []

10, 12, 13, 14 Hermann, Melanie; Eisheuer, Florian; Rathje, Jan (2020): Politische Bildungsarbeit für eine „Gesellschaft der Mündigen“, in: psychosozial, 43(1), S. 50-60. [] [] [] []

11KIgA e.V. (Hrsg.) (2017): Anders denken – Reflexionen über Antisemitismus-kritische Bildungsarbeit. In: Widerspruchstoleranz. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Berlin, S. 8-13 []

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