Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Gemeinwohlorientierung

Gemeinwohl […] meint allg. das Wohlergehen aller Mitglieder einer Gemeinschaft, auch öffentl. Interesse, im Ggs. zu Privatwohl und Partikularinteresse: es kann auch definiert werden als der allg. Zweck bzw. die gemeinsamen Ziele und Werte, zu deren Verwirklichung sich Menschen in einer Gemeinschaft zusammenschließen.“ (Nohlen/Grotz 2015, 211)

Hängen wir dieser Definition von Gemeinwohl das Teilwort „orientierung“ an, dann wird eine normative Zielvorstellung vorgeben. Das gilt auch für die politische Bildung.

Schon in der antiken Philosophie findet man Spuren einer Gemeinwohlorientierung des Staates, so bei Platon (428/427 v. Chr. – 348/347. v. Chr.). Es ist die Gerechtigkeit, die, die „Staaten zu solchen macht“ (Platon 1958, 443 b). Dafür sollen die Philosophen zu Königen werden. Denn ihr Trachten nach Weisheit (ebd.,475 c) führt zur „Glückseligkeit“ „für den Einzelnen“ und „für das Ganze“ (ebd., 473 c).

Staats- und politiktheoretisch wird das Gemeinwohl von Jean Jacques Rousseau (1772 – 1778) begründet. In seiner Idee von einem „Gesellschaftsvertrag“, einem „Contrat social“, die er 1762 veröffentlichte, entwickelte er seine Vorstellung von einer identitären Demokratie. Die Mitglieder eine Gesellschaft begründen einen Vertrag, den Rousseau so zusammenfasst: „Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“ (Rousseau 1968, 44)

Hinter dem Gedanken eines Gemeinwohls steht also die Vorstellung, dass es eine Idee vom gemeinsamen Glück, von der umfassender Gerechtigkeit und vom allgemein Gültigen gibt und dass ein Staat das für alle, die in ihm leben, ermöglichen kann. Es ist leicht einzusehen, dass da Zweifel aufkommen können. Denn wie wäre Eindeutigkeit herzustellen bei derart uneindeutigen Begriffen wies Glück, Gerechtigkeit und Gemeinwohl?

Ein entschiedener Kritiker Platons ist Karl Popper (1902 – 1994): „Hinter Platons Definition der Gerechtigkeit steht im Grunde sein Verlangen nach einer totalitären Klassenherrschaft und sein Entschluß, sie herbeizuführen.“ (Popper 1975, 132) Oft zitiert ist sein kategorischer Satz: „Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle.“ (Popper, in: Stark 1971, 3) Gerichtet ist er an die Adresse aller, die eine tugendhafte, absolut befriedete Gesellschaft herbeiführen wollen.

Gegen die Vorstellung von einer identitären Demokratie gerichtet ist die pluralistische Demokratietheorie. In Deutschland wurde sie vor allem von Ernst Frankel (1898 – 1975) entwickelt. Auch ihm geht es im Kern um das Gemeinwohl, aber eher darum, ob es ein solches überhaupt gibt. Er stellt fest, „daß mit der für den demokratischen Staat kennzeichnenden Vorstellung der Autonomie politischer Willensbildung der Gedanke eines a priori-Gemeinwohls in Form eines politischen Aktionsprogramms nicht in Einklang zu bringen ist. Schließt dies aber – so müssen wir uns fragen – die Möglichkeit eines a posteriori-Gemeinwohls aus – eines Gemeinwohls, das nicht vorgegeben ist, sondern das als Resultante aus dem Parallelogramm der divergierenden ökonomischen, sozialen und ideellen Kräften entsteht und den optimalen Ausgleich der antagonistischen Gruppeninteressen darstellt? […] Diese Frage ist nur dann nicht paradox, wenn man von der Arbeitshypothese ausgeht, es sei möglich, aus der heterogenen Not eine pluralistische Tugend zu machen.“  (Fraenkel, in: Massing/Breit/Buchstein 2012, 257)

Für die politische Bildung hat es erhebliche Konsequenzen, welche Demokratievorstellung ihrer Arbeit zu Grunde liegt. Das Konzept von einer identitären Demokratie unterstellt ein harmonisierendes, alle integrierendes und a priori (von vorneherein) erkennbares Gemeinwohl. Doch wer definiert das wie? Und was passiert, wenn es nicht allen Bürger*innen passt? Die pluralistische Demokratietheorie hingegen führt zu einem Ausgleich der verschiedenen Interessen. Die Einigung, die dann am Ende (a posteriori) entsteht, kann als im Einklang mit einem Gemeinwohl gesehen werden. Am Zustandekommen sind idealerweise alle Bürger*innen beteiligt. Sich daran zu orientieren, dafür Foren der Meinungsbildung und des Interessenausgleichs bereitzustellen, ist ein großes und wichtiges Aufgabenfeld für politische Bildung, ganz im Einklang mit dem zweiten Satz des Beutelsbacher Konsens.

Weiterlesen:

  • Massing, Peter/Breit, Gotthard/Buchstein Hubertus (Hrsg.): Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Interpretationshilfen, 8. völlig überarbeite Auflage. Schwalbach/Ts. 2012
  • Nohlen, Dieter/Grotz, Florian (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, 6. überarbeitete und erweitere Auflage, München 2015
  • Platon, Politeia, in: Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg 1958
  • Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 4. Aufl., München 1975
  • Rousseau, J.J.: Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1968
  • Stark, Franz (Hrsg.): Revolution oder Reform? Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, München 1971
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Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer

Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer ist Politik- und Bildungswissenschaftler und außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich mit Geschichte, Theorie und Praxis der politischen Bildung sowie mit der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und -extremismus.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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