Grundbegriffe
der Politischen Bildung

Dekolonialismus

Unter Dekolonialismus oder Dekolonisierung ist ein Prozess zu verstehen, der sich mit dem europäischen Kolonialismus und der Zeit danach auseinandersetzen möchte. Im Zentrum steht dabei die Erkenntnis, dass das Verhalten der ehemaligen Kolonialherrschaft gegenüber den damals Kolonisierten entscheidend für den Ablauf des Dekolonisierungsprozess ist. Machtgefüge, Unterdrückungen, Entfremdungen, Narrativen einer weißen Überlegenheit, Missionierungen insbesondere der Abbau von Rohstoffen und die daraus resultierenden Folgen sind u.a. Themen, die bis heute Standpunkte dieser Auseinandersetzung sind.

Der Ansatz des Dekolonialismus setzt auf mehreren Ebenen an, um ein Umdenken und einen kritischen Umgang mit den Nachwirkungen des Kolonialismus zu ermöglichen. Auf der akademischen Ebene ist bspw. wichtig auf die Wissensvermittlung ein Augenmerk zu legen, denn hier gilt verfestigten Narrativen der rassistisch begründeten europäischen Vorherrschaft über Vernunft und Raison bis hin zu Hütern der menschlichen Zivilisation kritisch zu betrachten. Wie wurde die Geschichte geschrieben? Ein zentraler Aspekt dieses Dekonstruktionsversuchs liegt z.B. bei der Auseinandersetzung mit dem Afrikabild und mit der Rassentheorie, d.h. Konstruktionen von nicht weißen Menschen zu prüfen, mit Klischees aufzuräumen, um sich intensiver mit Rassismus zu beschäftigen. Dabei ist es auch aus didaktischer Sicht wichtig, den Widerstand in der Kolonial- und Postkolonialzeit zu thematisieren, denn Bewegungen wie die Négritude oder der Panafrikanismus sind Ansätze, die mit den Vorstellungen einer angenommenen weißen Überlegenheit brechen und den Humanismus in den Vordergrund der menschlichen Begegnung rücken. Dekolonialismus setzt sich hierzu sehr stark mit der Kolonialen Amnesie auseinander, um so die Aufarbeitung der Geschichte von damals kolonisierten Menschen sowie Kolonialisten und deren Nachkommen zu ermöglichen. Die wirtschaftliche Ebene ist neben der intellektuellen genauso wichtig aufzugreifen, weil Ausbeutungen von Kolonialmächten bis heute mitverantwortlich sind für ökonomischen Ungleichheiten weltweit.

Dominic Johnson beschreibt Koloniale Amnesie als „das fehlende Bewusstsein in Politik und Gesellschaft für die während der deutschen Kolonialherrschaft ausgeübte Gewalt und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Nachfolgestaaten der deutschen Kolonien“. Eine Nicht-Thematisierung der Kolonialzeit kann in der politischen Bildung als Verdrängung ebenso wie als Nachlässigkeit verstanden werden.

Der Prozess des Dekolonialismus gerät nicht selten in Kritik, wenn es darum geht, Europa in seiner Verantwortung vorzuführen. Dieser Ansatz steht dabei keineswegs im Widerspruch zur bewussten Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit, die auf vielen Ebenen in seiner Anfangsphase ist.  

Dekolonialismus in der politischen Bildungsarbeit bedeutet:

  • Räume für die Thematisierung des europäischen Kolonialismus, in Schulen, Gesellschaft und im politischen Geschehen schaffen
  • Eine Erinnerungskultur und Erinnerungsorte beleben, die die noch offensichtlichen Kolonialspuren in unserer heutigen Gesellschaft auf den Grund gehen.
  • Widerstand als politisches Mittel und gesellschaftliches Engagement in der Auseinandersetzung mit Kolonialismus bereiter auffassen.
  • Beziehungen zwischen Europa und der Rest der Welt auf den Prüfstand stellen. Ansätze des Globalen Süden eignen sich hier als Gutes Format, um wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten weltweilt aufzugreifen
  • Kunst und Kulturschaffende im Dekolonisierungsprozess einbinden, siehe die Debatte um Restitution – Rückführung von Raubkünsten als Kulturgüter, aus der Kolonialzeit in den Herkunftsländern – in Deutschland und einigen europäischen Ländern.

Weiterlesen:

  • Aimé, Césaire (2021): Über den Kolonialismus und „Rede über die Négritude“.  Berlin
  • Dominic Johnson: Koloniale Amnesie. In: taz vom 17. Jan. 2004, http://www.taz.de/!805935/ (abgerufen am 17.08.2022).
  • Felwine, Sarr / Bénédicte Savoy (2019): Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Berlin
  • Franz, Fanon (2020): Schwarze Haut, weiße Masken. Wien
  • Léonora, Miano (2020): Eine Grenze bewohnen – Erinnerung dekolonisieren. Essays. Hiddensee
  • Ngugi, wa Thiong’o (2019): Dekolonisierung des Denkens. Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur. Münster
Alioune Niang

Alioune Niang

Alioune Niang ist Bildungsreferent der Fachstelle für Pädagogik zwischen Islam, antimuslimischem Rassismus und Islamismus in Berlin und koordiniert die Beratungs- und Fortbildungsangebote der Fachstelle. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar und Geschichte und Romanistik an der Universität Bremen. Als pädagogischer Mitarbeiter im Verein Arbeit und Leben in Bremen beschäftigte er sich in der politischen Erwachsenenbildung schwerpunktmäßig mit den Themen Afrika und Afrikabilder in Deutschland. Niang war 2008 bis 2014 Vorstandsmitglied beim Afrika-Netzwerk Bremen und engagiert sich im Integrationspolitischen Dialog der Hansestadt. Parallel dazu arbeitete Niang in unterschiedlichen Institutionen als Referent zu den Themen Islam und Migration. Er war Vorstandsmitglied der SCHURA Bremen, dem Dachverband islamischer Organisationen in Bremen.

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Grundbegriffe der Politischen Bildung

Um Kontroversen, Positionen und Perspektiven in der Politischen Bildung einordnen zu können, braucht es Wissen um dahinterliegende Diskurse. Die Traditionslinien der Politischen Bildung schlagen sich dabei auch im Fachvokabular der Profession nieder. Die Begriffsprägungen zeigen somit Erkenntnisse, Konsense aber auch Konfliktlinien innerhalb des Fachdiskurses an. Der hierbei entstehende argumentative Dialog ringt dabei zugleich um Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam mit unseren Autor*innen aus der Politischen Bildung stellen wir an dieser Stelle Grundbegriffe der Politischen Bildung vor.

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