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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
Rassenlehre, Wehrertüchtigung und Volksgemeinschaft: Weltanschauliche Schulungen in der Zeit des Nationalsozialismus
Wie sah Inhalt und Format der Politischen Bildung im faschistischen Deutschland aus? Dr. Paul Ciupke zeigt auf, wie die rassenideologische Weltanschauung strukturell verankert wurde und Teilnehmende so umfassend indoktrinierte. Gleichzeitig werden Nischen und Gegenöffentlichkeiten aufgezeigt, die sich widerständig für einen freien politischen Diskurs einsetzten.
→ Inhalt
Dass Fragen der Erziehung einen zentralen Stellenwert im Politik- und Weltanschauungsapparat der Nationalsozialisten besaßen, dokumentieren nicht nur die zahlreichen Aussagen von Adolf Hitler und anderen führenden Personen aus dem weltanschaulichen Kosmos des Nationalsozialismus (auf deren Wiedergabe aus Platzgründen hier verzichtet werden muss), sondern auch der fast unübersichtliche Schulungsapparat der NSDAP, ihrer Unter- und Vorfeldorganisationen und weiterer von ihr gesteuerter gesellschaftlicher Bereiche wie z.B. die Medien, berufspädagogische Einrichtungen und Freizeit- und Kulturinstitutionen. Schulung war der selbstgewählte und dominierende Begriff, und er verkörpert auch weitgehend das pädagogische Selbstverständnis und Repertoire der NS-Pädagogik. Im Folgenden werden allein die NS-Schulungsaktivitäten für jugendliche und erwachsene Adressat*innen dargestellt. Die vielfältigen Aktivitäten auf dem Schulsektor und der dortigen Elite-Einrichtungen wie Adolf-Hitler-Schulen und Nationalpolitischen Erziehungsanstalten bleiben hier unberücksichtigt.
Kontinuität und Bruch
"Viele Akteur*innen der Volksbildung der Weimarer Zeit suchten zunächst nach Kompromissmöglichkeiten, warteten ab, passten sich an oder begrüßten die neuen Entwicklungen."
Dr. Paul Ciupke
Nach der „Machtergreifung“ wurden viele Einrichtungen, die als nichtkonform bzw. als im Sinne der Weimarer Demokratie „systemnah“ galten, das betraf vor allem bekannte linke und linksliberale Institutionen, aufgelöst. Die Schließungen wurden manchmal begleitet von Stürmungen durch die SA. Das pädagogische Personal musste teilweise untertauchen oder wurde entlassen. Die bekannte Heimvolkshochschule Sachsenburg bei Frankenberg wurde sogar in ein frühes Konzentrationslager einbezogen.
Nach 1933 verließen viele Repräsentant*innen der Freien Volksbildung und der Arbeiterbildung Deutschland: So z.B. Alfred Mann, Franz Mockrauer, Fritz Borinski, Theodor Geiger, Paul Hermberg, Paul Honigsheim, Emil Blum, Carola Rosenberg-Blume, Robert Ulich, Willy Strzelewicz, Carl Tesch, Friedrich Siegmund-Schultze, Theodor Lessing, Martin Buber, Anna Siemsen und Eugen Rosenstock-Huessy. Andere wechselten in die Wirtschaft oder fristeten ein Leben als Privatgelehrte, dazu zählten unter anderen Gertrud Hermes, Franz Angermann, Heiner Lotze und Eduard Weitsch. Manche wie Adolf Reichwein verzichteten bewusst auf die Emigration, um eigene Wege der Einwirkung auf die neuen Verhältnisse einzuschlagen. Viele Akteur*innen der Volksbildung der Weimarer Zeit aber suchten zunächst nach Kompromissmöglichkeiten, warteten ab, passten sich an oder begrüßten die neuen Entwicklungen.
Die Neuordnung der Strukturen
Die ersten Jahre von 1933 bis etwa 1936 bildeten eine Übergangsphase, in der sich allmählich erst die neuen Strukturen und teilweise auch die politischen Vorgaben und Maximen herauskristallisierten. Das hängt vor allem mit der vorhandenen Polykratie der NS-Bewegung, ihrer Anführer und den internen Kämpfen um Macht und Einfluss zusammen. So beanspruchten u.a. Joseph Goebbels (als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda) , Heinrich Himmler (u.a. als Reichsführer SS), Walter Darré (als Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS), Robert Ley (als Reichsorganisationsleiter der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront), Alfred Rosenberg (als Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP) sowie Baldur von Schirach (als Reichsjugendführer) Autorität und Relevanz für das Feld der weltanschaulichen Beeinflussung und Schulung.
Die Verbände und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit suchten aber auch noch Möglichkeiten, durch freiwilligen Beitritt in NS-Ämter und NS-Organisationen vielleicht einen Rest an Autonomie zu wahren. Das galt beispielsweise für die „Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung“ und für einige bündische Gruppen mit ihren Bildungsstätten, die sich z.B. dem Reichsbund Volkstum und Heimat anschlossen, der aber Anfang 1935 aufgelöst und in die Deutsche Arbeitsfront überführt wurde. Über die Zwischenstation Großdeutscher Bund landeten die meisten Angehörigen der bündischen Jugend schließlich bei der Hitlerjugend (HJ).
"Die Verbände und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit suchten aber auch noch Möglichkeiten, durch freiwilligen Beitritt in NS-Ämter und NS-Organisationen vielleicht einen Rest an Autonomie zu wahren."
Dr. Paul Ciupke
Das weite Feld der NS-Schulungen
"Neben den neuen Funktionsträgern der Macht galt die Aufmerksamkeit vor allem Berufsgruppen wie den Ärzt*innen, Jurist*innen und Lehrende, da ihnen innerhalb der NS-Ideologie für die geplante Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinne besondere Bedeutung zukam."
Dr. Paul Ciupke
Inhalte und Ziele
Noch deutlicher konturiert zeigt sich das Programm im Bereich der Ausbildung des Führernachwuchses der SS. Es beschreibt die „Grundlagen der Weltanschauung“ wie folgt:
➞ Die Rasse
➞ Die Bindung des Bluts an den Boden
➞ Die Lebenshaltung des deutschen Sozialismus: Ehre, Freiheit, Persönlichkeit
➞ Die weltanschauliche Ausrichtung der einzelnen Wissenschaften
➞ Wirtschafts- und Soziallehre
➞ Die Feinde unserer Weltanschauung: Judentum, Politische Kirche, Freimaurertum, Liberalismus und Kapitalismus und Bolschewismus“
Formen und Widersprüche
„Soll der ganze Mensch voll erfaßt und gebildet werden, so müssen die Erziehungseinrichtungen der NSDAP. – es ist vor allem das ‚Lager‘ – so gehalten sein, daß in ihnen Körper, Charakter und Geist gleichermaßen zu ihrem Recht kommen und daß der Mensch, losgelöst von den verwirrenden Bindungen des Alltags, sich ganz dem vorbehaltlosen Leben und Schaffen in der Gemeinschaft gleichstrebender Volksgenossen hingibt und nur deutscher Mensch wird. …… Die äußeren Kennzeichen der Lagererziehung zeigen überall ähnliche Form und sind nur nach dem besonderen Zweck des Lagers abgestuft. Stadtferne, Gesundheit und Schönheit der Lage und Ausgestaltung gelten als erste Voraussetzung aller Schulungslager. Rang und Stand des Berufes sind ausgeschaltet; es gibt nur Kameraden, geführt von solchen Kameraden, die auf dem Arbeitsgebiet des betreffenden Lagers überlegen sind und daher hier erzieherisch wirksam werden können. Eine einheitliche Lagerkleidung ist nicht nur äußerliche Angleichung, sondern schafft auch stets eine starke innere Bindung. Oft tritt auch das kameradschaftliche „Du“ an die Stelle des fremden „Sie“, wie überhaupt der Nationalsozialismus in vielen seiner Gliederungen mit der aus der höfischen Gesellschaft stammenden und von der Verstädterung geförderten Sitte aufräumt, Menschen gleichen Blutes und Strebens einander fremd zu machen und ihre Gemeinschaft zu zerstören. Das „Du“, wie es in der natürlichen Gemeinschaft des Dorfes heute noch herrscht, wird somit ein Ausdruck der wiedererstehenden Verbundenheit.“19
Neben der Einfügung in das kleine Modell der Volksgemeinschaft, welches das Lager verkörperte, war natürlich die inhaltliche Ansprache der Teilnehmenden wesentlich. Dies geschah in der Regel durch Vorträge, die ausgebildete Schulungsredner*innen, im Schulungssystem der SS waren das in der Regel Akademiker*innen, hielten. Eigenaktivität und Diskursivität waren aber in bestimmtem Rahmen durchaus erwünscht. In seiner Untersuchung zur Schulungsarbeit der SS stellte Hans-Christian Harten die Frage, ob die SS-Schulungen auch eine „moderne Pädagogik“ genannt werden dürfen. Der Autor fand mitunter reformpädagogische und erlebnispädagogische Elemente und Einflüsse der Jugendbewegung z. B. im Kontext einer Gemeinschafts- und Lagererziehung vor."Da die Teilnehmenden in der Regel freiwillig kamen, brauchte man offenbar keine autoritäre Pädagogik. Sie hatten die Grenzen des Zweifels schon verinnerlicht."
Dr. Paul Ciupke
Nischen und Gegenöffentlichkeiten
Eine Darstellung der politischen Bildung in der Periode der NS-Herrschaft wäre unvollständig, wenn man nicht auch nach solchen Projekten fragen würde, die in damals bewusster Abgrenzung zum Nationalsozialismus und nach den demokratischen und professionell reflektierten Prinzipien politischer Jugend- und Erwachsenenbildung konzipiert und durchgeführt wurden. Dazu zählen solche Einrichtungen bzw. Organisationen, die ins Exil gegangen sind oder die im Exil gegründet wurden, um dort eine freie Bildungsarbeit zu pflegen. Hildegard Feidel-Merz nennt hier beispielsweise „Freie deutsche Volkshochschulen“ in Paris, London, Kopenhagen, Stockholm und anderswo.21
In Deutschland gab es ein paar Nischen, in denen – mehr oder weniger – ein freier politischer Diskurs gepflegt werden konnte. Dazu gehörte die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung in den 1930er Jahren, die verschiedene Bildungsaktivitäten für die aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzte jüdische Bevölkerung koordinierte. Auch manche etwas weniger im öffentlichen Fokus stehende katholische oder evangelische Einrichtung konnte im Gewand religiöser Selbstverständigung wohl auch politische Selbstreflexionen ermöglichen.
In England wurden Kriegsgefangene von deutschen Männern und Frauen im Exil, die mit englischen Partnern German Education Reconstruction (GER) gegründet hatten, über die NS-Diktatur aufgeklärt und auf die Demokratie vorbereitet.
Diese Gegenerzählungen haben vor allem symbolischen Wert, in der Realität der deutschen Gesellschaft nach dem Ende des Krieges, der Genozide und der NS-Herrschaft galt es nicht nur die Trümmer zusammenzukehren, sondern auch das durch Schulungen und Propaganda geschaffene oder bestärkte falsche Bewusstsein und Mentalitätserbe wegzuarbeiten. Das sollte ein langer Prozess werden, in dem wieder eine politische Bildung, allerdings jetzt eine ganz andere, die zum Teil noch entwickelt werden musste, ein wichtige Rolle spielen sollte.
Dr. Paul Ciupke
Paul Ciupke, Dr. phil. und Diplom-Pädagoge, bis 2018 im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union/Essen tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Werke zur Geschichte und Gegenwart der politischen Erwachsenenbildung, zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus, zum Lernen an anderen Orten und zur Weiterbildungspolitik.
1 Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 1982. []
2 Jürgen Henningsen: Bildsamkeit, Sprache und Nationalsozialismus, Essen 1963 []
3 Siehe auch Ciupke, Paul u.a. (Hrsg): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Essen 2007 []
4 Wolfgang Seitter: Verdrängung, Eingliederung, Aufwertung – Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus, in: Horn, Klaus-Peter/Link, Jörg W. (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 275-294 []
5 Helmut Keim/Dietrich Urbach: Volksbildung in Deutschland 1933-1945. Einführung und Dokumente, Braunschweig 1976, []
6, 13 Eine Gesamtübersicht und Gesamtbewertung der vielfältigen Schulungsaktivitäten gibt es bisher nicht. Insbesondere die Schulungsaktivitäten in der Partei sind bisher nur ausschnittsweise bzw. regional erfasst worden. Für den Gau Westfalen-Nord liegt immerhin die verdienstvolle Studie von Christian Bunnenberg vor: Die „weltanschauliche Schulung“ der NSDAP im Gau Westfalen-Nord von 1932 bis 1945, Köln 2016. [] []
7 Siehe dazu auch Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus, Essen 2006 []
8, 12 Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik (Band 1 und 2) München 2003. [] []
9 Dazu Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 – 1945, Göttingen 2003[]
10 Genauere Informationen zu den Lehrerlagern finden sich bei Andreas Kraas: Den deutschen Menschen in seinen inneren Lebensbezirken ergreife – Das Lager als Erziehungsform, in: Horn, Klaus-Peter/Link, Jörg W. (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 275-294. []
11 Jürgen Matthäus u.a.: Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS, Frankfurt am Main 2003. []
14 Robert Ley: Wir alle helfen dem Führer, München 1937. []
15, 21 Zitiert nach Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933-1945, Paderborn 2014. [] []
16 Zur Rolle der sog. „Rassenhygiene“ und den damit verbundenen Schulungsprogrammen siehe auch Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Mathias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs, Berlin 2006. []
17 Siehe dazu Lutz Raphael: Die nationalsozialistische Ideologie in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus, Essen 2006. []
18 Siehe dazu den Sammelband von Frank Bajohr und Michael Wildt herausgegeben: Volksgemeinschaft Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009. []
19 Rudolf Benze: Erziehung im Großdeutschen Reich, Frankfurt am Main, 1943, S. 90f. Benze war Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin. []
20 Rudolf Benze: Erziehung im Großdeutschen Reich, Frankfurt am Main, 1943, S. 90f. Benze war Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin. []
21 Hildegard Feidel-Merz: Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus, in: Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hrsg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (4., durchgesehene Aufl.), Wiesbaden 2010. []