GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG

Rassenlehre, Wehrertüchtigung und Volksgemeinschaft: Weltanschauliche Schulungen in der Zeit des Nationalsozialismus

Wie sah Inhalt und Format der Politischen Bildung im faschistischen Deutschland aus? Dr. Paul Ciupke zeigt auf, wie die rassenideologische Weltanschauung strukturell verankert wurde und Teilnehmende so umfassend indoktrinierte. Gleichzeitig werden Nischen und Gegenöffentlichkeiten aufgezeigt, die sich widerständig für einen freien politischen Diskurs einsetzten.

Kann es überhaupt in der Phase der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland politische Bildung gegeben haben und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und Vorannahmen? Dazu gibt es unterschiedliche Antworten. Der geisteswissenschaftlich geprägte Herwig Blankertz sprach in seiner Geschichte der Erziehung bezogen auf den Nationalsozialismus von „einer Art Unpädagogik“1 und legte eine normativ geprägte Messlatte an. Jürgen Henningsen hingegen, ein empirisch orientierter unorthodoxer Theoretiker auch der Erwachsenenbildung, sprach bereits in den 1960er Jahren von „Erziehungsstaat“2

→ Inhalt

Dass Fragen der Erziehung einen zentralen Stellenwert im Politik- und Weltanschauungsapparat der Nationalsozialisten besaßen, dokumentieren nicht nur die zahlreichen Aussagen von Adolf Hitler und anderen führenden Personen aus dem weltanschaulichen Kosmos des Nationalsozialismus (auf deren Wiedergabe aus Platzgründen hier verzichtet werden muss), sondern auch der fast unübersichtliche Schulungsapparat der NSDAP,  ihrer Unter- und Vorfeldorganisationen und weiterer von ihr gesteuerter gesellschaftlicher Bereiche wie z.B. die Medien, berufspädagogische Einrichtungen und Freizeit- und Kulturinstitutionen. Schulung war der selbstgewählte und dominierende Begriff, und er verkörpert auch weitgehend das pädagogische Selbstverständnis und Repertoire der NS-Pädagogik. Im Folgenden werden allein die NS-Schulungsaktivitäten für jugendliche und erwachsene Adressat*innen dargestellt. Die vielfältigen Aktivitäten auf dem Schulsektor und der dortigen Elite-Einrichtungen wie Adolf-Hitler-Schulen und Nationalpolitischen Erziehungsanstalten bleiben hier unberücksichtigt. 

Kontinuität und Bruch

Eine zentrale Fragestellung ist die nach Kontinuität und Bruch 1933. Diese ist aber nicht so einfach, wie oftmals in der Fachliteratur suggeriert wurde, zu beantworten. Behinderungen der freien Volksbildung und der linken arbeiterbildenden Einrichtungen begannen teilweise schon vor dem Regimewechsel 1933. Etwa in Thüringen, wo seit 1930 eine Regierung unter Beteiligung der NSDAP existierte, die die Landesförderung etwa der linksliberalen Heimvolkshochschule Dreißigacker einstellte, sich direkt in den Landesverband der thüringischen Volkshochschulen einmischte und diesen unter Druck setzte. Unter den Heimvolkshochschulen der Weimarer Republik waren bereits ca. 60% nationalkonservativ oder völkisch orientiert. Die NS-Schulungsarbeit nach 1933 begann daher in verschiedenen Hinsichten nicht beim Punkt Null, sondern konnte vielfach auf vorherige Entwicklungen aufbauen.3

"Viele Akteur*innen der Volksbildung der Weimarer Zeit suchten zunächst nach Kompromissmöglichkeiten, warteten ab, passten sich an oder begrüßten die neuen Entwicklungen."

Nach der „Machtergreifung“ wurden viele Einrichtungen, die als nichtkonform bzw. als im Sinne der Weimarer Demokratie „systemnah“ galten, das betraf vor allem bekannte linke und linksliberale Institutionen, aufgelöst. Die Schließungen wurden manchmal begleitet von Stürmungen durch die SA. Das pädagogische Personal musste teilweise untertauchen oder wurde entlassen. Die bekannte Heimvolkshochschule Sachsenburg bei Frankenberg wurde sogar in ein frühes Konzentrationslager einbezogen.

Nach 1933 verließen viele Repräsentant*innen der Freien Volksbildung und der Arbeiterbildung Deutschland: So z.B. Alfred Mann, Franz Mockrauer, Fritz Borinski, Theodor Geiger, Paul Hermberg, Paul Honigsheim, Emil Blum,  Carola Rosenberg-Blume, Robert Ulich, Willy Strzelewicz, Carl Tesch, Friedrich Siegmund-Schultze, Theodor Lessing, Martin Buber, Anna Siemsen und Eugen Rosenstock-Huessy. Andere wechselten in die Wirtschaft oder fristeten ein Leben als Privatgelehrte, dazu zählten unter anderen Gertrud Hermes, Franz Angermann, Heiner Lotze und Eduard Weitsch. Manche wie Adolf Reichwein verzichteten bewusst auf die Emigration, um eigene Wege der Einwirkung auf die neuen Verhältnisse einzuschlagen. Viele Akteur*innen der Volksbildung der Weimarer Zeit aber suchten zunächst nach Kompromissmöglichkeiten, warteten ab, passten sich an oder begrüßten die neuen Entwicklungen.

Die Neuordnung der Strukturen

Die ersten Jahre von 1933 bis etwa 1936 bildeten eine Übergangsphase, in der sich allmählich erst die neuen Strukturen und teilweise auch die politischen Vorgaben und Maximen herauskristallisierten.  Das hängt vor allem mit der vorhandenen Polykratie der NS-Bewegung, ihrer Anführer und den internen Kämpfen um Macht und Einfluss zusammen. So beanspruchten u.a. Joseph Goebbels (als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda) , Heinrich Himmler (u.a. als Reichsführer SS), Walter Darré (als Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS), Robert Ley (als Reichsorganisationsleiter der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront), Alfred Rosenberg (als Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP) sowie Baldur von Schirach (als Reichsjugendführer) Autorität und Relevanz für das Feld der weltanschaulichen Beeinflussung und Schulung.

Die Verbände und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit suchten aber auch noch Möglichkeiten, durch freiwilligen Beitritt in NS-Ämter und NS-Organisationen vielleicht einen Rest an Autonomie zu wahren. Das galt beispielsweise für die „Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung“ und für einige bündische Gruppen mit ihren Bildungsstätten, die sich z.B. dem Reichsbund Volkstum und Heimat anschlossen, der aber Anfang 1935 aufgelöst und in die Deutsche Arbeitsfront überführt wurde. Über die Zwischenstation Großdeutscher Bund landeten die meisten Angehörigen der bündischen Jugend schließlich bei der Hitlerjugend (HJ).

"Die Verbände und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit suchten aber auch noch Möglichkeiten, durch freiwilligen Beitritt in NS-Ämter und NS-Organisationen vielleicht einen Rest an Autonomie zu wahren."

Der Neuordnungsprozess der Volkshochschulen verlief zunächst ebenfalls uneinheitlich: Nach verschiedenen Machtkämpfen wurden die Volkshochschulen schließlich als Deutsches Volksbildungswerk in die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ und damit ebenfalls in die Deutsche Arbeitsfront integriert.4 In den zeitgenössischen Erlassen wird als Hauptaufgabe der Volksbildungsarbeit formuliert,  weniger „das nationalsozialistische Gedankengut verstandesmäßig zu übermitteln, sondern die Willenshaltung des deutschen Volkes zu fördern …. vor allem der Wille zur Wehrhaftigkeit, zur völkischen Selbstbehauptung, zum Bekenntnis von Blut und Boden und zur Einordnung in die Volksgemeinschaft.“5

Das weite Feld der NS-Schulungen

Die weltanschaulichen Schulungen und Propagandamaßnahmen oblagen aber in erster Linie der NSDAP.6 Diese unternahm vielfältige Anstrengungen, um die bestehenden und neue Schulungsstrukturen in der Partei und den vielen Unterorganisationen aus- bzw. aufzubauen. Ab Mai 1933 wurde unter der Ägide von Robert Ley das Hauptschulungsamt installiert. In alle Gliederungen der Partei hinab wurden Schulungsämter und Schulungsorte geschaffen, Schulungsleiter berufen. So gab es eine Reichsschulungsburg in Erwitte/Westfalen, Gauschulungsburgen, das war z.B. im Gau Westfalen Nord das Wasserschloss Nordkirchen, und Kreisschulungsburgen. Als Elite der Partei wollte man sogenannte Ordensjunker in vier zum Teil monumentalen Ordensburgen ausbilden; nur drei davon wurden allerdings realisiert, deren bekannteste die Ordensburg Vogelsang in der Eifel ist.6 Das gesamte System ist bis heute nur in Teilbereichen untersucht. Zu diesem direkt an die Partei angebundenen Kosmos kamen aber weitere Schulungssektoren in den Organisationen und Verbänden dazu. Auch im SS-Hauptamt existierte ein Schulungsamt, es dirigierte SS-Junkerschulen, Schulen der Waffen-SS und Schulen der Sicherheitspolizei, die der Ausbildung von Führungsnachwuchs dienten, welcher auf dem Boden der nationalsozialistischen Prinzipien stehen sollte. Über diesem vielfältigen Schulungsapparat sollte noch die von Rosenberg geplante, aber nur in Anfängen realisierte Hohe Schule „thronen“, eine Partei- und Eliteuniversität, die die weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus erforschen und lehren sollte.8
Geschichte
Die Geschichte der politischen Erwachsenenbildung ist in Deutschland eine lebhafte. Um die heutige Prägung einordnen zu können, bedarf es einer historischen Kontextualisierung, die den verschiedenen Entwicklungsströmen nachspürt und sichtbar macht.
Neben der NSDAP und der SS gab es weitere Bereiche und Verbände, die sich die Vermittlung der weltanschaulichen Grundlagen der NS-Bewegung, aber auch die militärische Vorausbildung zur zentralen Aufgabe machten. Zu nennen sind hier vor allem die Hitlerjugend (HJ), der Bund deutscher Mädel (BDM), die SA, der Reichsarbeitsdienst für junge Männer und auch für Frauen, der freiwillige Landdienst, der Reichsnährstand und andere mehr. Michael Buddrus nennt in seiner Untersuchung der HJ für das Jahr 1938 die Zahl von 1.800 HJ-Lagern, die etwa 400.000 Jugendliche erfassten.9 Bis 1943 soll diese Zahl auf 7.000-8.000 Lager mit 1,5 Millionen Teilnehmende gesteigert worden sein. Einen großen erzieherischen Einfluss dürften auch die Arbeitsdienstlager erzielt haben.10 Schon kurz nach der „Machtergreifung“ hatte der nationalsozialistische Staat in großem Umfang Schulungslager geschaffen. Neben den neuen Funktionstragenden der Macht galt die Aufmerksamkeit vor allem Berufsgruppen wie den Ärzt*innen, Jurist*innen und Lehrende, da ihnen innerhalb der NS-Ideologie für die geplante Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinne besondere Bedeutung zukam. So richtete man seit Mitte 1933 zahlreiche Lager ein, in denen die weltanschauliche Schulung vorgenommen wurde und gleichzeitig innerhalb dieser Gruppen auch eine Auswahl im Sinne von Zuverlässigkeit und Belastbarkeit stattfand.

"Neben den neuen Funktionsträgern der Macht galt die Aufmerksamkeit vor allem Berufsgruppen wie den Ärzt*innen, Jurist*innen und Lehrende, da ihnen innerhalb der NS-Ideologie für die geplante Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinne besondere Bedeutung zukam."

Dazu zählte die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse bei Neubrandenburg, in der zwischen 1934 und 1943 etwa 12.000 Mediziner auf die besonderen Aufgaben in der NS-Gesundheitspolitik eingestellt wurden, die maßgeblich von den Rassegesetzen, der Zwangssterilisation, den NS-Krankenmorden und Menschenversuchen in den Konzentrationslager bestimmt war. Im Gegensatz zur ländlichen Idylle von Alt Rehse stand die eher militärisch straffe Organisation im „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ in Jüterbog / Brandenburg, in dem zwischen 1933 und 1939 etwa 20.000 juristische Referendare einen Teil ihrer Ausbildung erfuhren. Heterogener in den Lagerformen waren die Lehrerlager, deren Organisation und Konkurrenz untereinander deutlicher die Kompetenzvielfalt des NS-Regimes widerspiegelte, wobei der NSLB-Reichsschule „Schloss Fantaisie“ bei Bayreuth eine maßgebliche Rolle für die „weltanschauliche Erziehung“ der NS-Lehrer-Eliten zukam.11 Das Erbe der Volksbildung der Weimarer Zeit wurde, wo möglich, in Anspruch genommen. Das gilt z.B. für die Bauernhochschulen, aber vor allem die bauliche Infrastruktur. Ein besonders prominentes Beispiel ist die 1928-30 im Bauhaus-Stil errichtete Bundesschule des ADGB in Bernau: Sie wurde zur so genannten Reichsführerschule, in der verschiedene Eliten des NS-Machtapparates weltanschauliche Aufrüstung erfuhren.

Inhalte und Ziele

„Ausbildungsziel Judenmord?“ ist eine einschlägige Veröffentlichung zur Schulung von Männern in der SS, Waffen-SS und Polizei betitelt.12 In dieser fragenden und zugleich zuspitzenden Kennzeichnung steckt ein Stück historische Wahrheit, die auf den Kern nationalsozialistischer Aktionen und Verbrechen abhebt, aber das Spektrum von Absichten und Zielen der NS-Schulungsarbeit war sicher breiter und nicht von vornherein auf das Ziel eines in der bisherigen Geschichte einzigartigen Genozids angelegt. Im Folgenden finden sich einige anschauliche Beispiele der Ausdifferenzierung von Schulungsthemen. In der HJ bildeten die Heimabende die Grundstufe der Schulungsarbeit, für die es Jahrgangsschulungspläne gab. Diese enthielten Themengruppen wie deutsche und germanische Geschichte, der „Kampf ums Reich“, „das Volk und sein Blutserbe“ und „Das Aufbauwerk des Führers“.13  Für die HJ-Führer gab es in den Führungsakademien natürlich weitergehende Schulungsangebote. Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges wurden für die HJ allerdings die vormilitärische Ausbildung, die Wehrertüchtigung und die geistige Mobilisierung für einen künftigen Krieg immer wichtiger. Christian Bunnenberg fasst die groben Ziele der Partei-Schulungen folgendermaßen zusammen: Die Funktionsträger der Partei sollten auf ihre „weltanschauliche Integrität“ überprüft und kontrolliert werden, zentrale Bestandteile der NS-Ideologie sollten vermittelt und schließlich sollte auch gelernt werden, sich ideologisch wie praktisch in und an der Volksgemeinschaft zu orientieren.14 Der für die Ordensburgen von Ley vorgesehene Lehrplan listet folgende „Hauptfächer“ auf15:

➞ Rassenlehre
➞ Geschichte
➞ Weltanschauung und Philosophie
➞ Kunst und Kultur
➞ Wirtschafts- und Soziallehre
➞ Wehrwissenschaft.

Noch deutlicher konturiert zeigt sich das Programm im Bereich der Ausbildung des Führernachwuchses der SS. Es beschreibt die „Grundlagen der Weltanschauung“ wie folgt:

➞ Die Rasse
➞ Die Bindung des Bluts an den Boden
➞ Die Lebenshaltung des deutschen Sozialismus: Ehre, Freiheit, Persönlichkeit
➞ Die weltanschauliche Ausrichtung der einzelnen Wissenschaften
➞ Wirtschafts- und Soziallehre
➞ Die Feinde unserer Weltanschauung: Judentum, Politische Kirche, Freimaurertum, Liberalismus und Kapitalismus und Bolschewismus“

Den Begriff der Weltanschauung haben die Nationalsozialist*innen für sich reklamiert, er ist keine spätere Zuschreibung. Im Kern beinhaltete diese Weltanschauung eine auf Biologismus und Rassismus beruhende Sicht der Entwicklungen in der Vergangenheit und der Gegenwartsgesellschaft. Es existierten Vorstellungen einer inneren und äußeren Ordnung, die auf Maßnahmen der unbedingten Integration des einen, als besonders wertvoll angesehenen Bevölkerungsteils („Arier“ und Gesunde) und der, zum Teil mörderischen, Ausgrenzung des anderen Teils (u.a. Jüd*innen, Sinti*ze und Rom*nja und sog. Erbkranke) gleichzeitig beruhten: Volksgemeinschaft oder „Rassenhygiene“ und Extermination.16 Eine weitere Leitidee des NS verkörperte die ideologische Maßgabe, dass das deutsche Volk mehr Lebensraum brauche, was aggressive Aktionen gegen europäische Nachbarn zu legitimieren geeignet war. Darüber hinaus mussten auch die sonstigen politischen Gegner*innen, das waren im Wesentlichen die Vertreter*innen der Arbeiterbewegung, des politischen Liberalismus und eines überzeugten christlichen Konservatismus, weitgehend ausgeschaltet und deren theoretische Grundlagen diskreditiert werden. Der NS-Machtapparat signalisierte einerseits Entschiedenheit und Unbedingtheit, forderte Gefolgschaft, gleichzeitig aber wurde immer wieder auch die Anschlussfähigkeit an verwandte Strömungen und Überzeugungen gesucht.17 So war etwa der Begriff der Volksgemeinschaft vor 1933 in fast allen politischen Lagern mit Ausnahme der Kommunist*innen verbreitet und akzeptiert, wurde nun aber von der NS-Bewegung exkludierend genutzt.18

Formen und Widersprüche

In der Lagererziehung sahen Vordenkende wie Rudolf Benze die ideale Form der NS-Erziehung:

„Soll der ganze Mensch voll erfaßt und gebildet werden, so müssen die Erziehungseinrichtungen der NSDAP. – es ist vor allem das ‚Lager‘ – so gehalten sein, daß in ihnen Körper, Charakter und Geist gleichermaßen zu ihrem Recht kommen und daß der Mensch, losgelöst von den verwirrenden Bindungen des Alltags, sich ganz dem vorbehaltlosen Leben und Schaffen in der Gemeinschaft gleichstrebender Volksgenossen hingibt und nur deutscher Mensch wird. …… Die äußeren Kennzeichen der Lagererziehung zeigen überall ähnliche Form und sind nur nach dem besonderen Zweck des Lagers abgestuft. Stadtferne, Gesundheit und Schönheit der Lage und Ausgestaltung gelten als erste Voraussetzung aller Schulungslager. Rang und Stand des Berufes sind ausgeschaltet; es gibt nur Kameraden, geführt von solchen Kameraden, die auf dem Arbeitsgebiet des betreffenden Lagers überlegen sind und daher hier erzieherisch wirksam werden können. Eine einheitliche Lagerkleidung ist nicht nur äußerliche Angleichung, sondern schafft auch stets eine starke innere Bindung. Oft tritt auch das kameradschaftliche „Du“ an die Stelle des fremden „Sie“, wie überhaupt der Nationalsozialismus in vielen seiner Gliederungen mit der aus der höfischen Gesellschaft stammenden und von der Verstädterung geförderten Sitte aufräumt, Menschen gleichen Blutes und Strebens einander fremd zu machen und ihre Gemeinschaft zu zerstören. Das „Du“, wie es in der natürlichen Gemeinschaft des Dorfes heute noch herrscht, wird somit ein Ausdruck der wiedererstehenden Verbundenheit.“19

Neben der Einfügung in das kleine Modell der Volksgemeinschaft, welches das Lager verkörperte, war natürlich die inhaltliche Ansprache der Teilnehmenden wesentlich. Dies geschah in der Regel durch Vorträge, die ausgebildete Schulungsredner*innen, im Schulungssystem der SS waren das in der Regel Akademiker*innen, hielten. Eigenaktivität und Diskursivität waren aber in bestimmtem Rahmen durchaus erwünscht. In seiner Untersuchung zur Schulungsarbeit der SS stellte Hans-Christian Harten die Frage, ob die SS-Schulungen auch eine „moderne Pädagogik“ genannt werden dürfen. Der Autor fand mitunter reformpädagogische und erlebnispädagogische Elemente und Einflüsse der Jugendbewegung z. B. im Kontext einer Gemeinschafts- und Lagererziehung  vor.

"Da die Teilnehmenden in der Regel freiwillig kamen, brauchte man offenbar keine autoritäre Pädagogik. Sie hatten die Grenzen des Zweifels schon verinnerlicht."

Freie Rede und offenes Diskutieren im Rahmen von Ausspracheabenden wurden als bedeutsam erachtet, ganzheitliche Methoden praktiziert, die Lehrenden sollten die Prozesse „unauffällig … steuern“, die Teilnehmenden aber auch den Stoff teilweise selbstständig erarbeiten.  Da die Teilnehmenden in der Regel freiwillig kamen, brauchte man offenbar keine autoritäre Pädagogik. Sie hatten die Grenzen des Zweifels schon verinnerlicht. Insofern zieht Harten folgenden durchaus nachvollziehbaren Schluss: „Die Rezeption von Formen „moderner Pädagogik“ diente letztlich dem Zweck, jenes Maß an Selbstgewissheit und Selbstvertrauen zu schaffen, das herrschaftstechnisch gebraucht wurde und funktional war.“20 Hauptsächlich wurde ein holistisches Weltbild praktiziert, in dem es keine Kontroversität und Multiperspektivität gab, die die weltanschauliche Geschlossenheit des Nationalsozialismus hätte in Frage stellen dürfen. Einen wichtigen Aspekt der NS-Erziehung bildete aber auch die Förderung von Elitebewusstsein. Dieses wurde unter anderem auch durch die besonderen Schulungsorte gefördert, etwa die Ordensburgen. Welche Wirkungen die Schulungsmaßnahmen auf die Teilnehmenden gehabt haben, ist ex post zum Teil nur zu vermuten und leider kaum erforscht worden. Natürlich gibt es einzelne aussagekräftige biografische Zeugnisse, dennoch wäre es hochproblematisch, die von den nationalsozialistischen Akteuren anvisierten Ziele schlechthin als erfüllt zu betrachten. Die Ausbildung einer Parteielite auf den Ordensburgen kann man z.B. als gescheitert betrachten, nicht nur, weil kein Jahrgang zum Abschluss gekommen ist, sondern auch, weil es nicht genügend geeignete Bewerber*innen gab.

Nischen und Gegenöffentlichkeiten

Eine Darstellung der politischen Bildung in der Periode der NS-Herrschaft wäre unvollständig, wenn man nicht auch nach solchen Projekten fragen würde, die in damals bewusster Abgrenzung zum Nationalsozialismus und nach den demokratischen und professionell reflektierten Prinzipien politischer Jugend- und Erwachsenenbildung konzipiert und durchgeführt wurden. Dazu zählen solche Einrichtungen bzw. Organisationen, die ins Exil gegangen sind oder die im Exil gegründet wurden, um dort eine freie Bildungsarbeit zu pflegen.  Hildegard Feidel-Merz nennt hier beispielsweise „Freie deutsche Volkshochschulen“ in Paris, London, Kopenhagen, Stockholm und anderswo.21

In Deutschland gab es ein paar Nischen, in denen – mehr oder weniger – ein freier politischer Diskurs gepflegt werden konnte. Dazu gehörte die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung in den 1930er Jahren, die verschiedene Bildungsaktivitäten für die aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzte jüdische Bevölkerung koordinierte. Auch manche etwas weniger im öffentlichen Fokus stehende katholische oder evangelische Einrichtung konnte im Gewand religiöser Selbstverständigung wohl auch politische Selbstreflexionen ermöglichen.

In England wurden Kriegsgefangene von deutschen Männern und Frauen im Exil, die mit englischen Partnern German Education Reconstruction (GER) gegründet hatten, über die NS-Diktatur aufgeklärt und auf die Demokratie vorbereitet.

Diese Gegenerzählungen haben vor allem symbolischen Wert, in der Realität der deutschen Gesellschaft nach dem Ende des Krieges, der Genozide und der NS-Herrschaft galt es nicht nur die Trümmer zusammenzukehren, sondern auch das durch Schulungen und Propaganda geschaffene oder bestärkte falsche Bewusstsein und Mentalitätserbe wegzuarbeiten. Das sollte ein langer Prozess werden, in dem wieder eine politische Bildung, allerdings jetzt eine ganz andere, die zum Teil noch entwickelt werden musste, ein wichtige Rolle spielen sollte.

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Dr. Paul Ciupke

Paul Ciupke, Dr. phil. und Diplom-Pädagoge, bis 2018 im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union/Essen tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Werke zur Geschichte und Gegenwart der politischen Erwachsenenbildung, zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus, zum Lernen an anderen Orten und zur Weiterbildungspolitik.

Herwig Blankertz: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 1982. [↩]

Jürgen Henningsen: Bildsamkeit, Sprache und Nationalsozialismus, Essen 1963 [↩]

3 Siehe auch Ciupke, Paul u.a. (Hrsg): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Essen 2007 [↩]

Wolfgang Seitter: Verdrängung, Eingliederung, Aufwertung – Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus, in: Horn, Klaus-Peter/Link, Jörg W. (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 275-294 [↩]

Helmut Keim/Dietrich Urbach: Volksbildung in Deutschland 1933-1945. Einführung und Dokumente, Braunschweig 1976, [↩]

6, 13 Eine Gesamtübersicht und Gesamtbewertung der vielfältigen Schulungsaktivitäten gibt es bisher nicht. Insbesondere die Schulungsaktivitäten in der Partei sind bisher nur ausschnittsweise bzw. regional erfasst worden. Für den Gau Westfalen-Nord liegt immerhin die verdienstvolle Studie von Christian Bunnenberg vor:  Die „weltanschauliche Schulung“ der NSDAP im Gau Westfalen-Nord von 1932 bis 1945, Köln 2016. [↩] [↩]

7 Siehe dazu auch Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus, Essen 2006 [↩]

8, 12 Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik (Band 1 und 2) München 2003. [↩] [↩]

Dazu Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 – 1945, Göttingen 2003[↩]

10 Genauere Informationen zu den Lehrerlagern finden sich bei Andreas Kraas: Den deutschen Menschen in seinen inneren Lebensbezirken ergreife – Das Lager als Erziehungsform, in: Horn, Klaus-Peter/Link, Jörg W. (Hrsg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 275-294. [↩]

11 Jürgen Matthäus u.a.: Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS, Frankfurt am Main 2003. [↩]

14 Robert Ley: Wir alle helfen dem Führer, München 1937. [↩]

15, 21  Zitiert nach Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933-1945, Paderborn 2014. [↩] [↩]

16 Zur Rolle der sog. „Rassenhygiene“ und den damit verbundenen Schulungsprogrammen siehe auch Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Mathias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs, Berlin 2006. [↩]

17 Siehe dazu Lutz Raphael: Die nationalsozialistische Ideologie in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hrsg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus, Essen 2006. [↩]

18 Siehe dazu den Sammelband von Frank Bajohr und Michael Wildt herausgegeben: Volksgemeinschaft Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009. [↩]

19 Rudolf Benze: Erziehung im Großdeutschen Reich, Frankfurt am Main, 1943, S. 90f. Benze war Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin. [↩]

20 Rudolf Benze: Erziehung im Großdeutschen Reich, Frankfurt am Main, 1943, S. 90f. Benze war Gesamtleiter des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin. [↩]

21 Hildegard Feidel-Merz: Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus, in: Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hrsg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (4., durchgesehene Aufl.), Wiesbaden 2010. [↩]

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