GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG

Die Neue Frauenbewegung der 1960er und 70er Jahre im Verhältnis zur politischen (Frauen*-) Bildung: Zwischen Selbsterfahrung, Politisierung und Emanzipation

Die Sozialen Bewegungen der 1968er Jahre im noch relativ jungen bundesrepublikanischen Deutschland übten einen großen Einfluss auf Richtung und Wirken politischer Bildung aus. Hatte die außerparlamentarische Opposition in Form der Studentenbewegung1 eine Demokratisierung der Gesellschaft im Blick, eröffnete die zweite Welle der Frauenbewegung (auch Neue Frauenbewegung genannt) eine emanzipatorische Perspektive auf die Teilhabe von Frauen* und setzte Impulse, die bis heute wirken.

„Das Private ist politisch“: Die Entstehung der Neuen Frauenbewegung

In den 1960/1970er Jahren setzte eine zweite Welle von Frauenprotesten in der Bundesrepublik ein. Sie wird auch als Neue (deutsche) Frauenbewegung bezeichnet und als soziale Bewegung mit bestimmten Formen gemeinsamen sozialen Handelns gelesen, die darauf gerichtet war einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen und – im Fall der Frauenbewegung – insbesondere im Geschlechterverhältnis Bevormundung, Ungerechtigkeiten und soziale Ungleichheiten zu beseitigen.2

→ Inhalt

Es handelte sich eher um Frauenbewegungen, die sich aus unzähligen kleineren Aktionsbündnissen, einzelnen Protagonistinnen, Ortsgruppen und Zusammenschlüssen von Akteur*innen zusammensetzten. Vereint wurden sie durch ähnliche Interessenslagen wie der Fokussierung auf das Geschlechterverhältnis, genauer das Zusammenleben der Geschlechter, so verfolgte diese recht heterogene soziale Bewegung dennoch auch unterschiedliche Ziele: War für das Frankfurter Frauenbündnis der Kampf gegen den Paragraphen 218 (das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und Mein Körper gehört mir) und damit das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper von zentraler Bedeutung, waren die Berliner Akteur*innen vom Aktionsrat zur Befreiung der Frau mit der Bearbeitung der Frauen- und damit der Kinderfrage beschäftigt und entwickelten als eine Lösungsstrategie die Kinderläden als außerinstitutionelle Erziehungsarrangements. 

Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch
Das in §218 Strafgesetzbuch (StGB) normierte Abtreibungsverbot war und ist seit seiner Aufnahme in das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches von 1871 Gegenstand oft erbitterter gesellschaftlicher und politischer Diskussionen. Dirk von Behren zeigt den geschichtlich-gesellschaftlichen Verlauf auf.

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Wirken diese Schauplätze zunächst recht unterschiedlich, lassen sie sich mit dem übergeordneten Ziel der Emanzipation der Frau zusammenfassen. Hier wurde zunächst auf eine Offenlegung patriarchaler Strukturen hingearbeitet und entwickelte sich im weiteren Verlauf zu einer Politisierung des Privaten. „Das Private ist politisch“ als Slogan der Neuen Frauenbewegung wird in der Literatur auf die sog. Tomatenwurfrede zurückgeführt3, die Helke Sander im September 1968 auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS hielt: „Die Gruppen, die am leichtesten politisierbar sind, sind die Frauen mit Kindern. Bei ihnen sind Aggressionen am stärksten und die Sprachlosigkeit am geringsten.“4

Kritik an den bestehenden Verhältnissen und am Zusammenleben der Geschlechter

Die Politisierung des Privaten als Leitmotiv, welches zur zentralen Grundlage der Neuen Deutschen Frauenbewegung avancierte, umfasste nachstehende Dimensionen: Zum einen das Aufbrechen der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung innerhalb der Familie“5, wobei es dabei im Besonderen um die alleinige Zuständigkeit von Frauen* für Hausarbeit und Kindererziehung ging und zum anderen die Beschäftigung mit neuen Erziehungskonzepten, demnach einer ,Erziehung zum Ungehorsam’ und ,aufrechtem Gang’6. Gleichzeitig fand ein Ringen nach soziologischen Erklärungen für gesellschaftliche Strukturen statt, die zu unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Chancen für die Geschlechter führten7.

"Der Feminismus zielte nicht wie die anderen aufkommenden sozialen Bewegungen nur auf die Gleichberechtigung und Partizipation im bestehenden System ab, sondern auch auf die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse."

Die Neue Frauenbewegung distanzierte sich ausdrücklich von der „etablierten, traditionellen und zahm gewordenen Politik“8 auch von den bis dato bestehenden Frauenverbänden und definierte sich selbst ausdrücklich als neu und autonom. Unter anderem deshalb, weil sie wie die anderen aufkommenden sozialen Bewegungen nicht nur auf die Gleichberechtigung und Partizipation im bestehenden System abzielte, sondern auch auf die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse. Durch diese Form der Kritik und der Abgrenzung zu der bis dahin stattfindenden Frauenpolitik erlangte der Begriff des Feminismus seine (teilweise radikale) Bedeutung. Feminismus beinhaltet Emanzipations- und Freiheitsbestrebungen von Frauen* und wird als ein Eintreten für Frauen*rechte verstanden. Ute Gerhard definiert Feminismus als eine politische Theorie

„die nicht nur einzelne Anliegen verfolgt, sondern die Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse im Blick hat, also einen grundlegenden Wandel der sozialen und symbolischen Ordnung – auch in den intimsten und vertrautesten Verhältnissen der Geschlechter – anstrebt und gleichzeitig Deutungen und Argumente zu ihrer Kritik anbietet.9

Ingrid Schmidt-Harzbach, eine Akteurin der Neuen Frauenbewegung, erweitert Gerhards Definition um eine weitere Dimension: Sie versteht unter Feminismus mehr als eine nur eine Haltung, politische Überzeugung oder Einstellung, vielmehr sei er

„eine neue Lebensform, die wir uns Schritt für Schritt erkämpfen müssen. Deshalb haben wir auch nichts Fertiges zu bieten. Den Frauen soll nichts von außen aufgesetzt werden, weder politisches Wissen noch Engagement für andere. Sie sollten vielmehr sich selbst in den Mittelpunkt stellen, ihre eigene Unzufriedenheit benennen und mit anderen betroffenen Frauen zusammenarbeiten.10

"Als die ersten Frauen* aufbegehrten, waren ihnen die unterdrückenden gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst und diese galt es nicht nur offenzulegen und zu kritisieren, sondern vor allem zu verändern, um dadurch zur Frauenbefreiung beizutragen."

In diesen Einsichten zeigt sich die Prozesshaftigkeit der Erarbeitung eines neuen Selbstverständnisses der Akteur*innen in der Neuen Frauenbewegung. Als die ersten Frauen* aufbegehrten, waren ihnen die unterdrückenden gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst und diese galt es nicht nur offenzulegen und zu kritisieren, sondern vor allem zu verändern, um dadurch zur Frauenbefreiung beizutragen. Ausgearbeitete Programme und Strategien gab es noch nicht, lediglich erste Ideen und Versuche, die bestehenden Verhältnisse zu ändern.

Orte erster politischer (Frauen-)Bildung

Aus der Neuen Frauenbewegung konstituierten sich neben politischen Gruppierungen Lesekreise, Frauenarchive, Frauenuniversitäten und Selbsterfahrungsgruppen, die als Orte an denen erstmalig politische Frauenbildung stattfand gelesen werden können.

Literatur als feministischer Anknüpfungspunkt

Die Rezeption und Produktion feministischer Texte nahm einen wichtigen Stellenwert innerhalb der Bewegung ein. In Lesekreisen fand beispielsweise das Standardwerk „Das andere Geschlecht“ von Simone DeBeauvoir großen Anklang und wurde gemeinsam diskutiert. Häufig entstanden aus den Lesekreisen heraus auch die ersten Frauenbuchläden oder es wurden Frauenarchive mit feministischer Literatur eingerichtet. Zeitschriften wie Courage, Emma und Beiträge zur feministischen Theorie wurden erstmalig herausgebracht und erste eigene Frauenbuchverlage gegründet.

Frauenuniversitäten

Feministische Strömungen reichten auch bis in das Hochschulwesen und führten zu einer Hinterfragung der herkömmlichen Wissenschaften, da diese bei der Analyse der Geschlechterverhältnisse kaum hilfreich waren. Als Antwort entwickelte sich eine frauenspezifische Wissenskultur, die im Rahmen der Frauenuniversität zum Thema „Frauen und Wissenschaft“ erstmalig 1976 einen Ort erhielt. Hier wurden Ringvorlesungen zur Frauenforschung, Frauentagungen und Frauenseminare veranstaltet, für Notz gelten die bis in die 1980er Jahre hinein veranstalteten Frauenuniversitäten als zentrales Projekt der Frauenbewegung der 1970er Jahre. Bereits damals wurden Themen, die heute wieder an Aktualität gewonnen haben in den Mittelpunkt gestellt. So fand 1977 eine Sommeruniversität mit dem Thema „Frauen – bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte“ statt in dem sich auch die Forderung der Frauenbewegung nach „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wiederspiegelt, die bis heute leider nicht eingelöst werden konnte wie am aktuellen Gender Pay Gap erkennbar ist.

GESCHICHTE
Die Geschichte der Politischen Bildung ist in Deutschland eine lebhafte. Um die heutige Prägung einordnen zu können, bedarf es einer historischen Kontextualisierung, die den verschiedenen Entwicklungsströmen nachspürt und sichtbar macht.

Selbsterfahrungsgruppen

Lag bei den Frauenuniversitäten bereits eine institutionelle Anbindung vor, fanden die sich neu gründenden Selbsterfahrungsgruppen eher im Privaten statt. Sie funktionierten nach dem Muster amerikanischer ‚consciousness raising groups’ bei der das „Sprechen über Schmerzen, um Schmerzen zu erinnern“ als Methode genutzt wurde, um zunächst festzustellen, dass die Person das Erlebte nicht allein betraf, um darüber zu neuen Lösungswegen zu gelangen. Krechel hält fest, dass keine Erfahrung zu persönlich sei, als dass „sie nicht auch die Erfahrung vieler anderer und die gesellschaftliche Vermittlung deutlich machen könnte“11. Die Erfahrungshintergründe der Teilnehmenden sollte möglichst homogen sein: „Auf jeden Fall sollte möglichst verhindern werden, daß ein Mitglied anders ist als die anderen (zum Beispiel eine ledige und berufstätige Frau in einer Gruppe von lauter Hausfrauen), weil ihre Probleme dann meist weniger zur Sprache kommen“12. Zu Beginn eines jeden Gesprächs wurde ein Thema festgelegt. Diskutiert wurde unter anderem die Rolle der Frau, die an sie gerichteten Erwartungen, wie z.B. die generelle Verfügbarkeit des Mannes über die weibliche Sexualität und die Benachteiligungen in struktureller und individueller Hinsicht durch die Gesellschaft, sowie die Gewalt gegen Frauen*. Idealerweise sollte eine Gruppe vier Phasen durchlaufen: In der ersten Phase sollte eine Frau* aus der Gruppe sich selbst und ihre Situation in Bezug auf das zuvor festgelegte Thema darstellen. Dabei durfte sie weder unterbrochen noch das Gesagte kritisiert werden. Daran anschließend wurde das Persönliche auf die Gruppe übertragen und Erfahrungen geteilt und ausgetauscht, um in einem dritten Schritt das Erlebte zu analysieren. In der letzten Phase wurde das Gesagte abstrahiert13. Die Arbeit in den Selbsterfahrungsgruppen kann als Emanzipationsarbeit gelesen werden und als Schritt hin zu einer Befreiung der Frauen*.

Was danach geschah…

Parallel zu diesen von den Akteur*innen geschaffenen Räumen in denen eine eher aktionistisch ausgerichtete politische (Frauen-) Bildung stattfand, etablierten sich auch in bereits institutionalisierten Strukturen der Erwachsenenbildung spezifische Frauenbildungsangebote. Wirklich trennscharf ist diese Entwicklung allerdings nicht zu sehen, da erste Angebote zunächst in Frauenzentren und Frauenverbänden angesiedelt waren, die teilweise aus der Bewegung entstanden und erst im weiteren Verlauf fanden die Angebote auch Eingang an Volkshochschulen und bei kirchlichen, gewerkschaftlichen und (partei-) politischen Bildungsträgern.14. Damit änderte sich auch die Schwerpunktsetzung der Bildungsarbeit: Weg von Selbsterfahrung und Hinterfragung der Verhältnisse hin zu einer Verbesserung von Partizipationsmöglichkeiten von Frauen* in allen gesellschaftlichen Bereichen und einer Selbstbefähigung von Frauen* den vielfältigen geschlechtsspezifischen gesellschaftlicher Benachteiligungen entgegenzutreten. Diese Bestrebungen haben bis heute an Aktualität nichts verloren.
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Dr.*in Miriam Mauritz

Erziehungswissenschaftlerin und Projektkoordinatorin bei #BIT* | Basics Inter* und Trans* der FUMA Fachstelle Gender & Diversität NRW. Geboren im Jahr 1984.

1 Da es sich bei der Studentenbewegung um einen feststehenden Begriff handelt und ihr Ziel und ihre Praxis eher männlich ausgerichtet waren, kann keine geschlechtergerechte Schreibweise verwendet werden. [↩]

2, 8, 9 Gerhard, U. (2009): Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. München: Verlag C. H. Beck. [↩] [↩] [↩]

Bendkowski, H. (1999): Einleitung. Wie weit flog die Tomate? 1968-1998 – auf den Spuren der 68erinnen. In: Heinrich-Böll-Stiftung und Feministisches Institut [Hrsg.]: Wie weit flog die Tomate? Eine 68erinnen-Gala der Reflexion. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung, S.11-22. [↩]

Sander, H. (2004): Rede des „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“ bei der 23. Delegiertenkonferenz des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) im September 1968 in Frankfurt. In: Sievers, R. [Hrsg.]: 1968 – Eine Enzyklopädie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.372-378. [↩]

5, 7 Baader, M. S. (2008): Das Private ist politisch. Der Alltag der Geschlechter, die Lebensformen und die Kinderfrage. In: Baader, M. S. [Hrsg.]. Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!. Wie 1968 die Pädagogik bewegte. Weinheim und Basel: Beltz, S.153-172. [↩] [↩]

6 Bott, G. [Hrsg.] (1970). Erziehung zum Ungehorsam. Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung. Filmmanuskript. Frankfurt am Main: März Verlag. [↩]

10 Schmidt-Harzbach, I. (1978): „Tradition und Weiterentwicklung der Frauenkämpfe des 19. Jahrhunderts durch die autonomen Frauengruppen“. In: Vorbereitungskommitee Berlin (Hg.): 1. Berliner Frauenkonferenz der traditionellen Frauenverbände und der autonomen Frauengruppen vom 16. bis 18. September 1977. Dokumentation. Berlin. [↩]

11 Krechel, U. (1977): Selbsterfahrung. In: Menschik, J. [Hrsg.]: Grundlagentexte zur Emanzipation der Frau. 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Köln: Pahl-Rugenstein, S.340-347. [↩]

12 Wagner, A. C. (1977): Frauengesprächsgruppen. Beschreibung, Regeln und Themen. In: Menschik, J. [Hrsg.]: Grundlagentexte zur Emanzipation der Frau. 2. verbesserte und erweiterte Auflage. Köln: Pahl-Rugenstein, S.348- 357. [↩]

13 Nave-Herz, R. (1982): Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. In: Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung [Hrsg.]: Die Rolle der Frau in einer gewandelten Welt. Folge 7. Hannover: Buchdruckwerkstätten GmbH. [↩]

14 Herfel, C. / Saupe C. /Kirschenlohr, D. (1996): Unsere Stadt braucht Frauen -Unser Kreis braucht Frauen. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg [Hrsg.]. Stuttgart https://www.lpb-bw.de/publikationen/stadtfra/frauen6.htm (abgerufen am 30.10.22) [↩]

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