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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
1960er: Aufwind für die Politische Bildung – Zwischen Affirmation und Kritik
Zur Jahreswende 1959/60 sorgten Hakenkreuzschmierereien an jüdischen Einrichtungen in Köln und anderswo für Entsetzen und Empörung. Diese Vorkommnisse machten bewusst, was im Verlauf der 1960er Jahre zu einem Politikum für die jüngere Generation werden sollte: Die mangelnde Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese Thematik sowie der von den USA in Vietnam geführte Krieg stellten mobilisierende Faktoren für die Herausbildung einer außerparlamentarischen Opposition (APO) in der Bundesrepublik dar, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre verbreitert. Prof. Ingo Juchler beschreibt den Weg der Politischen Bildung durch die 60er Jahre und die Entwicklung hin zur sog. „didaktischen Wende“.
Hakenkreuzschmierereien und „Erziehung nach Auschwitz“
In den 1960er Jahren entwickelte sich die politische Bildung bzw. die Politikdidaktik zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin: Die »didaktische Wende« zeichnete sich durch wissenschaftliche Theoriebildung aus, die sich neben der Politikwissenschaft auch an anderen Sozialwissenschaften orientierte und darauf fußend politikdidaktische Konzeptionen zu den Zielen politischer Bildung, zur Auswahl ihrer Lerngegenständen und zu unterrichtlichen Vermittlungsmöglichkeiten erstellte.
→ Inhalt
"Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung."
Theodor W. Adorno (1966)
„Eben nicht sogenannte Menschenformung […]; nicht aber auch bloße Wissensvermittlung […], sondern die Herstellung eines richtigen Bewusstseins. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“4
Didaktische Wende
"Für die Politikdidaktiker*innen war für die Bestimmung von Demokratie der Ost-West-Gegensatz als zentraler zeitgenössischer internationaler Konflikt prägend – es ging darum, Schüler*innen im politischen Unterricht den elementaren Unterschied von Demokratie und Diktatur nahe zu bringen."
Prof. Ingo Juchler
Kritik oder Affirmation der bestehenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse?
„Politische Bildung muss, will sie nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, auf jede Art von Manipulation des Schülers verzichten. Politisch-demokratischer Handlungswille kann nur entstehen aus der Analyse gesellschaftlicher Konflikte, aus der kritischen Reflexion öffentlicher Herrschaft und der sich in ihr verkörpernden Interessen, und schließlich aus der reflektierten Stellungnahme im Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Um in diesem Sinne politisch bilden zu können, d. h. um für die Auseinandersetzungen vorzubereiten, ist eine Hereinnahme des politischen Konflikts in die Schule erforderlich.“10
Allerdings bleibt Schmiederer skeptisch, was den Erfolg schulischer politischer Bildungsbemühungen bei Schüler*innen angesichts anderer wirkmächtiger Sozialisationsinstanzen anbelangt:„Die Praktiken der Reinlichkeitsdressur, Formen und Inhalt der Sexualerziehung, das Verhalten von Eltern und Lehrern sind für den Bestand und die Entwicklung der Demokratie entscheidender als Art und Umfang, Methode und Inhalt der »Sozialkunde« in der Schule. Erziehungsorganisation und Erziehungsmethoden, Formen und Normen der Sozialisierung sind aber Funktionen der jeweiligen Gesellschaft; wir werden uns also vor übertriebenen Hoffnungen hüten müssen: die Voraussetzungen der Demokratie, der freie weil psychisch unverbogene und unverklemmte Mensch wird eine Ausnahme bleiben, solange die Grundstruktur der Gesellschaft repressiv ist.“11
Rolf Schmiederer rekurriert wie Hermann Giesecke bei seinen didaktischen Überlegungen insbesondere auf Sozialwissenschaftler*innen und Philosoph*innen, die im Umfeld der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zu verorten sind. Dagegen und v. a. gegen die insgesamt gesellschaftskritische Ausrichtung dieser politikdidaktischen Konzeptionen wandte sich beispielsweise Hans-Günther Assel mit seinen Kritischen Gedanken zu den Denkansätzen der politischen Bildung im Jahre 1969. Er konstatiert im Hinblick auf die Rezeption sozialwissenschaftlicher Literatur im Bereich der politischen Bildung: „Die Gefahr, einen »Soziologismus« in die politische Bildung hineinzutragen, wird häufig übersehen.“12
Für Assel ist es von besonderer Bedeutung, dass im Politikunterricht „Wertvorstellungen“ vermittelt werden, „die der politischen Ordnung in Freiheit und Würde entsprechen.“13
Im Unterschied zur didaktischen Konzeption Schmiederers ist es Assel nicht um Emanzipation und Veränderung des derzeitigen politischen Status quo zu tun, sondern um den Erhalt der bestehenden Ordnung: „Menschenwürdige Ordnung und schöpferisches Freiheitsbewusstsein bilden die »Grundkonstanten« der politischen Bildung, die der Weltgesellschaft von morgen gerecht werden.“14
Dagegen heißt es bei Schmiederer zur „konservativen und tradierenden Funktion“ der Schule respektive der politischen Bildung: „Dem Status quo verpflichtet, apologetisch, neigt sie dazu, als Institutionenlehre bestehende Strukturen und Verhältnisse zu hypostasieren“ 15
Die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre angestoßene Diskussion um »kritische« oder »emanzipatorische« politische Bildung einerseits und andererseits um politische Bildung, die vorgeblich »affirmativ« die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstetigen sucht, reichte schließlich bis zum Beutelsbacher Konsens im Jahre 1976.
Prof. Dr. Ingo Juchler
Prof. Dr. Ingo Juchler ist seit 2010 Professor für Politische Bildung an der Universität Potsdam und beschäftigt sich mit den demokratischen Aufbrüchen in Deutschland. Er blickt dabei u.a. auf die Geschehnisse rund um das Jahr 1968, die friedliche Revolution 1989 und die heutige Fridays for Future-Bewegung.
1 Kuhn, Hans-Werner/Massing, Peter/Skuhr, Werner (Hrsg.) (21993): Politische Bildung in Deutschland. Entwicklung – Stand – Perspektiven, Opladen. [↩]
2 Juchler, Ingo (2018): 1968 in Deutschland. Schauplätze der Revolte, Berlin. [↩]
3 Adorno, Theodor W. (1984): Erziehung nach Auschwitz, in: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main, S. 88-104. [↩]
4 Adorno, Theodor W. (1984): Erziehung – wozu?, in: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main, S. 105-119. [↩]
5,6 Fischer, Kurt Gerhard/Herrmann, Karl/Mahrenholz, Hans (1960): Der politische Unterricht, Bad Homburg/Berlin/Zürich. [↩] [↩]
7 Gagel, Walter (1994): Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989, Opladen. [↩]
8 Sander, Wolfgang (2003): Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland, Bonn. [↩]
9 Dahrendorf, Ralf (1965): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München. [↩]
10, 11, 15 Schmiederer, Rolf (1966): Zur Problematik politischer Bildung in der Schule, in: Das Argument, Jg. 8/Heft 5, S. 386-397. [↩] [↩] [↩]
12, 13, 14 Assel, Hans-Günther (1969): Kritische Gedanken zu den Denkansätzen der politischen Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31, 2. August 1969, S. 3-23. [↩]
5 is ende