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WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?
Für eine Emotionssensible politische Urteilsbildung: Eine Planungsheuristik
Der nachfolgende Artikel bietet praktische Hinweise für die Operationalisierung einer emotionssensiblen politische Urteilskompetenz. Die entworfene Heuristik basiert dabei maßgeblich auf den theoretischen und empirischen Erkenntnissen einer Untersuchung zur Emotionen und politischem Urteilen.
Einleitung
Emotionen stehen in unserer Gesellschaft im Schatten eines rationalen Aufklärungsideals. Nicht selten wurde das Bild geprägt Emotionalität sei aus Urteilsprozessen möglichst auszuklammern oder herauszurechnen1. Ihr Vorhandensein wurde u. a. als ein Zeichen für populistische oder extremistische, kurz: unseriöse Urteilsformen gedeutet.
→ Inhalt
Anerkennungswürdige Urteile sollten demgegenüber auf nachvollziehbaren, rationalen Kriterien beruhen. So oder so ähnlich lassen sich viele fachliche Diskurse zum politischen Urteilen zusammenfassen. Dass rationale und emotionale Aspekte jedoch untrennbar miteinander verbunden sind und dass Emotionalität sich aus Urteilsprozessen nicht negieren lässt ist eine Erkenntnis, die sich in Urteilskonzeptionen und -heuristiken bislang nur langsam durchsetzt. Dabei wissen wir längst, dass Rationalität und Emotionalität keine Gegensätze darstellen, sondern zwei miteinander verbundene Phänomene sind. Erst ihr tadelloses Zusammenspiel ermöglicht Subjekten überhaupt eine sinnvolle Urteilsbildung2.
Politische Urteilskompetenz und Emotionalität
In den von Politikdidaktiker*innen bislang vorgelegten Kompetenzmodellen bleiben die emotionalen Seiten der politischen Urteilsfindung weitgehend unberücksichtigt. So fehlt es etwa an konkreten Überlegungen welche emotionalen Bestandteile den definierten Kompetenzbereichen zugeordnet werden können oder dezidierten Orientierungshilfen für eine praktische Realisierung. In einem ersten Schritt wird hier daher exemplarisch für das Kompetenzmodell der Gesellschaft für Politikdidaktik in der Jugend- und Erwachsenenbildung3 aufgezeigt, welche emotionalen Bestandteile der Urteilskompetenz zugerechnet werden können.
Eine hilfreich Orientierung hierfür bieten die Vorarbeiten des Erziehungswissenschaftlers Erich Weber4, der zum Zwecke der Reflexion von Emotionen vier Inhaltsfelder vorgeschlagen hat, die bereits vorwegnehmen, was ca. fünfzehn Jahre später im Gewand des Konzeptes der Emotionalen Intelligenz5 erneut aufgetaucht ist (vgl. Tab. 1).
Verbindet man die theoretischen Überlegungen von Weber sowie Mayer und Salovey6 mit den empirischen Erkenntnissen zu einer emotionssensiblen Urteilsbildung und setzt sie mit dem Kompetenzbegriff der GPJE in Bezug, lassen sich aus den auftretenden Schnittmengen erste fachspezifische emotionale Regelstandards für die politische Urteilskompetenz konkretisieren:
Für eine möglichst praxisfreundliche Differenzierung bietet sich hierbei eine Unterteilung politischer Urteilsakte in drei analytisch trennbare Phasen an (vgl. Tab. 2). Die Gliederung in drei Urteilsphasen ist dabei nicht als eine dogmatische Grenzziehung misszuverstehen, sondern dient als didaktische Orientierungs- und Analysehilfe.
Prä-Urteilsphase
Innerhalb des Kompetenzbereiches der Prä-Urteilsphase sollten Lernende individuelle emotionale Zugänge zu einem politischen Phänomen entdecken, denn ohne emotionale Beteiligung auf Seiten der urteilenden Person, „besteht für sie wenig Veranlassung, über eine soziale oder politische Handlungsorientierung nachzudenken“7. Emotionale Zugänge zum Urteilsthema sollten daher die internistische Urteilsmotivation der Lernenden fördern. Eine empirische Vorstellung davon, wie Emotionen dabei wirken, lässt sich aus der sozialpsychologisch orientierten Emotionsforschung gewinnen. Emotionen fungieren demnach als Unterbrechungsmechanismen, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf ein konkretes Phänomen lenken8. Der einzelne Mensch wird dabei als ein Subjekt verstanden, um dessen Aufmerksamkeit permanent eine Vielzahl von unterschiedlichen und parallel auftretenden Sinneseindrücken konkurrieren.
Um innerhalb dieses Chaos den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit konzentrieren zu können, dienen Emotionen quasi als Filterwerkzeuge, mit deren Hilfe das, was als subjektiv relevant empfunden wird, fokussiert und von Irrelevantem getrennt wird. Dank dieses Mechanismus können sich individuelle Urteilsmotivation herausbilden. Versinnbildlichen lässt sich dieser Filterprozess auch anhand der Arbeiten des Sprachwissenschaftlers Reinhard Fiehler9, der zwischen vier unterschiedlichen Involvierungsstrategien von Emotionen unterscheidet:
- Eingehen (z.B. das Zeigen von Anteilnahme bezüglich einer wahrgenommenen Emotionalität)
- Hinterfragen (z.B. Problematisierung der manifestierten Emotionalität)
- Infragestellen (z.B. das Kritisieren der manifestierten Emotionalität) und
- Ignorieren (z.B. außer Acht lassen der manifestierten Emotionalität).
Urteilsmotivation entsteht demnach, wenn die emotionale Involvierung der urteilenden Person auf mindestens einer der drei ersten Ebenen verfängt. Geschieht dies hingegen nicht, beseht für das Subjekt keine hinreichende Urteilsmotivation.
"Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass der durchschnittliche Grad der Involvierung und Motivation bei didaktisch ganzheitlich ausgerichteten Lernprozessen – unabhängig von der Altersstufe der Lernenden – im Vergleich zu einseitig orientierten Ansätzen zunimmt."
Dr. Hendrik Schröder
Um die Urteilsmotivation von Lernenden zu aktivieren stellt sich didaktisch die Frage, mit welchen Mitteln und Methoden eine emotionale Involvierung der Lernenden konkret unterstützt und gefördert werden kann. Die neurowissenschaftliche Forschung in diesem Bereich zeigt, dass „Über je mehr Kanäle […] eine Information eintrifft, umso eher wird sie als solche Assoziationsmöglichkeiten vorfinden. Je mehr Assoziationen […], desto größer auch die sogenannte Motivation, der Bewegrund, der Antrieb, und damit auch die Aufmerksamkeit zum Lernen.“10. Förderlich ist demnach eine breite und vor allem abwechslungsreiche mediale Aufbereitung von Unterrichtsthemen. Typischerweise verringern sich die sinnlichen Auseinandersetzungsformen der Lernenden mit Lerngegenständen jedoch im Laufe einer Schulkarriere11. Während sich vor allem die jüngeren Schüler*innen Phänomene durch Techniken wie Ausmalen, Singen, Basteln, Collagen, Fotographie, Inszenieren usw. erschließen, beschränken sich bei Älteren die Auseinandersetzungsformen hauptsächlich auf das Zuhören und Sprechen. Dabei gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass der durchschnittliche Grad der Involvierung und Motivation bei didaktisch ganzheitlich ausgerichteten Lernprozessen – unabhängig von der Altersstufe der Lernenden – im Vergleich zu einseitig orientierten Ansätzen zunimmt. Michael Legutke12 sieht in der fragmentarischen Trennung von Lernenden in sprechende Köpfe und passivisierte Restkörper gar die Gefahr, dass „besonders die Schule seit Jahrzehnten die Einheit des Menschen aus Wahrnehmung, Gefühle, Denken und praktischem Handeln zugunsten einseitiger kognitiver Operationen und Zielvorstellungen partialisiert und so schöpferische Potenziale ignoriert oder unterdrückt“. Die möglichst mannigfaltige didaktische Aufarbeitung eines Urteilsthemas erhöht hingegen die Wahrscheinlichkeit das Lernende einen emotionalen Zugang finden und sich auf der individuelle Ebene eine Urteilsmotivation einstellt. Unterstützt werden kann dieser Prozess durch assoziative Aufgabenstellungen zur Erkennung und Beschreibung von Emotionen (wie z.B. das Erkennen, Deuten und Verstehen von Emotionalität in politischen Kontexten am Beispiel von Bildanalysen, Wertediskussionen, Dilemmatasituationen, usw.).
Neben einer emotional ansprechenden Aufbereitung des Urteilsthemas hatte bereits Gotthard Breit13 darauf hingewiesen, dass die Methode der Perspektivenübernahme z.B. zur Entstehung von Empathie oder Ablehnung und damit zu einer Steigerung der Urteilsmotivation führen kann. Generell dürfte offenkundig sein, dass ein authentisches Hineinversetzen in eine fremde Perspektive nicht nur kognitiv-rationale, sondern auch affektive und emotionale Aspekte beinhaltet. Die Übernahme vermeidlicher Empfindungen einer anderen Person können dabei als Ausgangspunkte für die Entwicklung einer eigenen Urteilsmotivation dienen.
Haupt-Urteilsphase
Dank der interdisziplinär aufgestellten Emotionsforschung wissen wir, dass Emotionen innerhalb der Haupt-Urteilsphase im Rahmen von Bewertungskriterien und bei der Urteilsstrukturierung eine entscheidende Rolle spielen. Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen etwa, dass bei einer Störung des emotionalen Erlebens verhindert wird, dass Urteilende „verschiedene Handlungsmöglichkeiten unterschiedlichen Werten“14 zuordnen.
In der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung werden Emotionen ebenfalls primär als „bewertende Stellungnahme“15 von Informationen aufgefasst und die Philosophin Martha Nussbaum16 setzt Emotionen, aufgrund der ihnen inhärenten kognitiven Intentionalitäten, gar per se mit Werturteilen gleich, womit sie auf einer Linie mit ihrem Fachkollegen Robert Solomon17 liegt, der Emotionen nicht als blinde Interaktionen, sondern als steuerbare Urteile versteht
Den Zusammenhang von Emotionen und Wertvorstellungen brachte dabei bereits Max Scheler wunderbar zum Ausdruck als er konstatierte: „Werte sind uns im Fühlen zunächst gegeben“18. Wertvorstellungen können dabei als normative Bewertungsschemata von Welt verstanden werden, die sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen und politischen Ebene bestehen und intrasubjektiv variieren. Im Sinne einer solchen wertsubjektivistischen Vorstellung existieren für Werte keine unhintergehbaren, konsensualen oder universell gültigen Verständnisse. Vielmehr bleiben sie stets kontextgebunden, erklärungsbedürftig und verhandelbar. Was wir beispielsweise als gerecht und was als ungerecht empfinden ist primär keine rationale sondern zunächst eine emotionale Angelegenheit. Ein Austausch über vorhandene Wertvorstellungen sollte daher neben rationalen stets auch emotionale Sichtweisen berücksichtigen. Das didaktische Ziel besteht dabei darin, dass Lernende in der Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen eigene und fremde Emotionen wahrnehmen, unterscheiden, reflektieren/kritisieren, anerkennen und im Rahmen ihrer Urteilsfindung sinnvoll berücksichtigen können.
"Wann genau in der individuellen Wahrnehmung einer Person die Überzeugungskraft der eingebrachten Argumente als groß genug erachtet wird und wann nicht, drückt sich unmittelbar in ihrem emotionalen Empfinden aus."
Dr. Hendrik Schröder
Praktisch bedeutet dies, dass Werte, die im Rahmen einer politischen Urteilsfindung für die Urteilenden von Relevanz sind, identifiziert und benannt werden müssen (z.B. Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, etc.). Dabei können durchaus unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf die identifizierten Wert und die Gewichtung der selben zutage treten. Die Lernenden sind daher aufgefordert zu argumentieren, was eine Wert in ihrer individuellen Vorstellung auszeichnet (z.B. was ist Leistungsgerechtigkeit), wann für sie der genannte Wert erreicht ist (wann gilt zum Beispiel etwas als leistungsgerecht) und zu begründen, wie sie diesen Wert gegenüber anderen Werten gewichten (z.B. Leistungsgerechtigkeit vs. Verteilungsgerechtigkeit). Im Rahmen der Begründung ihrer Wertvorstellungen sollten sie sich dabei auf rationale (meist positive) und emotionale (meist normative) Kriterien beziehen und die klassischen Gütekriterien für qualitativ hochwertige Urteile, wie etwa eine multiperspektivistische und komplexe Begründungsarchitektur19, berücksichtigen. Emotionen übernehmen in diesem Prozess zudem die Funktion eines Sättingungsfilters. Für die einen mag z.B. Leistungsgerechtigkeit vorliegen, wenn die Faktoren C und D erfüllt sind. Für die anderen fühlt es sich vielleicht erst dann nach Leistungsgerechtigkeit an, wenn neben C und D auch noch der Faktor L hinzukommt. Wann genau in der individuellen Wahrnehmung einer Person die Überzeugungskraft der eingebrachten Argumente als groß genug erachtet wird und wann nicht, drückt sich unmittelbar in ihrem emotionalen Empfinden aus. Als Prozessdeterminanten signalisieren Emotionen daher den Urteilenden, wann für sie eine individuelle rationale/emotionale Sättigung eines spezifischen Wertes erreicht ist. Es ist daher möglich, dass eine Gruppe z.B. etwas als leistungsgerecht beurteilt, während eine andere Gruppe dies ablehnt. Emotionen sind somit – in einem konstruktivistischen Sinne – an der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, warum Menschen trotz gleicher Faktenbasis mitunter zu divergierenden Urteilen gelangen.
Um eine rein philosophische Diskussion um die vermeintlich richtige Definition eines Wertes möglichst klein zu halten oder zu vermeiden, empfiehlt sich dabei die Thematisierung von Wertvorstellungen nicht gegenstandslos, sondern stets gegenstandsbezogen vorzunehmen.
Graphik: Ergebnisse der Teilnehmenden-Befragung aus der Veranstaltung „Politische Bildung mit Gefühl? Über die Rolle von Emotionen in unserer Profession“ vom 15. Februar 2022.
Nachdem die bewertende Funktion von Emotionen innerhalb von Urteilsprozessen in ihren Grundzügen expliziert wurde, soll nachfolgend ihre strukturierende Funktion exemplarisch hervorgehoben werden. So können Emotionen die Struktur eines politischen Urteils dominieren, wenn z.B. eine emotionale Evokation das Urteilsziel darstellt. In diesen Fällen avancieren Emotionen selbst zu eigenständigen Urteilskriterien, wobei nicht wie beim Bewerten das subjektive emotionale Erleben, sondern die antizipierte emotionale Reaktion der Urteilsrezipient*innen im Mittelpunkt steht. In diesen Fällen kann von einem aktiven Emotionsmanagement auf Seiten der Urteilenden gesprochen werden20. Vor dem Hintergrund aktueller politischer Herausforderungen, wie der rasanten Annäherung an die ökologisch vertretbaren ökonomischen Wachstumsgrenzen unserer Erde, fällt ihm im Rahmen von politischen Urteilen ein ganz besonders Potenzial zu. So bietet ein aktives Emotionsmanagement z.B. eine Alternative zu gängigen Bezugsgrößen für die Bewertung eines politisches Urteils. Anstelle, wie oft üblich, auf ökonomische Kennziffern (z.B. wirtschaftliches Wachstum, Arbeitslosenstatistiken oder Vermögenswerte) zielt ein bewusstes Emotionsmanagement auf das emotionale Erleben von Menschen (z.B. die Maximierung von Glücksempfinden). Im Mittelpunkt steht also der Versuch, mittels politischer Urteile, eine gezielte Evokation eines bestimmten emotionalen Outputs einzuleiten. Aufgrund der skizzierten aktuellen Herausforderungen, sollte der sinnvolle Umgang mit emotionalen Evokationen zum Regelstandard didaktisch konzipierter Lernsettings zum politischen Urteilen gehören. Auf der Handlungsebene bedeutet dies, dass Lernende einüben sollten den emotionalen Output eines politischen Urteils zu erkennen, zu reflektieren, zu kritisieren, verantwortlich zu planen und zu steuern. Die folgenden Leitfragen können hierbei zur Orientierung dienen:
- welchen emotionalen Output erzeugt ein politisches Urteil,
- welcher emotionale Output eines politischen Urteils ist wünschenswert bzw. welcher nicht und
- welche Eingriffsmöglichkeiten beeinflussen den emotionalen Output eines politischen Urteils.
So könnten bei einem politischen Urteil zur Raumaufteilung im Straßenverkehr etwa die Fragen gestellt werden, welche Formen der Nutzflächenverteilung denkbar und möglich sind und welche vermutlich am meisten zur Steigerung des Wohlbefindens der Anlieger beitragen. Das antizipierte emotionale Empfinden der Anlieger wird so zum primären Urteilskriterium erhoben und in das Zentrum des Urteilsfindungsprozesses gerückt.
Post-Urteilsphase
Neben einer sachlich validen und eindeutigen Urteilsbegründung, die auch Unsicherheiten und Wiedersprüche transparent darstellt, muss jedes politisches Urteil, um eine Relevanz in der Öffentlichkeit zu entfalten, die adressierten Rezipient*innen auch emotional ansprechen und überzeugen können. Ziel innerhalb von politischen Bildungskontexten muss es daher sein, dass Lernende vermittlungsfördernde emotionale Gehalte identifizieren, reflektieren und selbstkritisch verwenden können. Drei Überzeugungsstrategien für eine emotionssensible, politische Urteilskommunikation konnten dabei induktiv erschlossen werden:
- Der Versuch mittels des dargestellten politischen Urteils positive Emotionszustände bei den Betroffenen auszulösen,
- der Versuch mittels eines politischen Urteils negative Emotionszustände bei den Betroffenen zu vermeiden,
- das Postulat alternative Urteilsoptionen würden vorwiegend negative Emotionszustände bei den Betroffenen hervorrufen.
Alle drei Strategien zielen darauf ab die Überzeugungskraft des eigenen politischen Urteils mit Hilfe von emotionalen Bezügen im Kontext der Urteilsbegründung zu maximieren. Die Umsetzung der Strategien kann grundsätzlich auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Aus den Sprech- und Argumentationstheorien sind diesbezüglich drei Ebenen bekannt, die bereits von Aristoteles21 unterschiedenen wurden und die noch heute zur Systematisierung dienen22: Logos, Ethos und Pathos. Alle drei Ebenen sind im Rahmen einer emotionalen Evokation von Bedeutung und spielen beim Erlernen und Verfeinern der politischen Urteilskompetenz eine Rolle. Neben der verbalen (was wird gesagt) und der paraverbalen (wie wird es gesagt) spielt dabei insbesondere die nonverbale Ebene (wie tritt die urteilende Person auf) eine bedeutende Rolle23 Auf diesen drei analytischen Ebenen lassen sich didaktische Ansatzpunkte für eine emotionssensible politische Urteilskommunikation finden. Die nachfolgende Tabelle steht exemplarisch für die Ebene des Pathos und zeigt empirisch, induktiv gewonnene rhetorische Techniken, die im Sinne des Pathos durch Evokation und Abschwächung von Emotionalität „die Überzeugungskraft der vom Redner vertretenen Sache im Publikum stärken oder erst herstellen [sollen, Anm. d. Verf.]“24.
Die emotionale Güte der Urteilsvermittlung bemisst sich dabei u.a. darin, inwiefern es dem Urteilenden im Rahmen der Urteilsvermittlung gelingt an die subjektiven, emotionalen Weltdeutungen und Wertvorstellungen der Urteilsrezipient*innen anzuknüpfen25. Maßgeblich hierfür ist, dass die emotionale Verpackung eines politischen Urteils unter Kenntnis und Berücksichtigung der kultur- und zeitspezifischen Historizität von Emotionen erfolgt26. Die Identifikation und Vergegenwärtigung von emotionalen Kontiguitäten und Ambiguitäten sowie aktuelle Formen emotionaler Sozialität bieten aus didaktischer Perspektive daher ebenfalls konkrete Lernanlässe, um passgenaue und emotionssensibleFormen der Urteilskommunikation zu identifizieren und zu diskutieren.
Abschluss
Zum Abschluss sei noch auf die Tatsache verwiesen, dass politische Propagandakonzepte und Formen der Public Relation mit populistischer und manipulativer Prägung besonders stark auf Emotionen als Überzeugungsmittel setzten27. Die Kompetenz einer emotionssensiblen politischen Urteilsbildung ist daher gesellschaftspolitisch im doppelten Sinne von Bedeutung, denn sie ermöglicht es dem Einzelnen zwischen seriösen und unseriösen Formen der emotionalen Ansprache zu unterscheiden und schützt die Gesellschaft vor der indoktrinierenden Artikulation von Einzelinteressen.
Dr. Hendrik Schröder
Dr. Hendrik Kasper Schröder arbeitet als Lektor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Universität Bremen. Seine aktuellen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind die politische Emotionsforschung, Arbeiten zur „Utopiekompetenz" sowie das Verhältnis von Normativität und Politikwissenschaft / Politikdidaktik.
Das Gespräch führte David Stein für http://www.profession-politischebildung.de
1 Schell, Hans (2004): Emotionen und aggressives Handeln – ein Überblick. In: Hansjörg Kautter/Walther Munz (Hrsg.): Schule und Emotionen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 11-38. [↩]
2 Schröder, Hendrik (2020): Emotionen und politisches Urteilen. Eine politikdidaktische Untersuchung. Wiesbaden: Springer VS. [↩]
3 Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) (Hrsg.) (2004): Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung in Schulen. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag. [↩]
4 Weber, Erich (1975): Emotionalität und Erziehung. Ein pädagogischer Orientierungsversuch. In: Rolf Oerter/Erich Weber (Hrsg.). Der Aspekt des Emotionalen in Unterricht und Erziehung. Donauwörth: Verlag Ludwig Auer, S. 69-125. [↩]
5, 6 Mayer, John D./Salovey, Peter (1997): What is Emotional Intelligence? In: Peter Salovey /David J. Sluyter (Hrsg.): Emotional Development and emotional intelligence Educational Implications. New York: BasicBooks, S. 3-31. [↩] [↩]
7, 13 Breit, Gotthard (1991): Fühlen und Denken im politischen Unterricht. In: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Rationalität und Emotionalität in der politischen Bildung. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, S. 58-78. [↩] [↩]
8 Betsch, Tilmann/Funke, Joachim/Plessner, Henning (2011): Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Allgemeine Psychologie für Bachelor. Heidelberg: Springer. [↩]
9, 15 Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion. Berlin/New York: Walter de Gruyter. [↩] [↩]
10 Vester, Frederic (1999): Neuland des Denkens. Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter. 11. Aufl., München: Deutscher Taschenbuch Verlag. [↩]
11, 12 Legutke, Michael (1988): Lebendiger Englischunterricht. Kommunikative Aufgaben und Projekte für schüleraktiven Fremdsprachenunterricht. Bochum: Verlag Ferdinand Kamp. [↩]
14 Damásio, António R. (2012): Descartesʼ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. 7. Aufl., Berlin: List. [↩]
16 Nussbaum, Martha C. (2001): Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions. Cambridge: University Press. [↩]
17 Solomon, Robert C. (2000): Gefühle und der Sinn des Lebens. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. [↩]
18 Scheler, Max (1980): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. 6., durchges. Aufl., Bonn: Bouvier. [↩]
19 Klee, Andreas (2011): Von der Alltagsmeinung zum politischen Urteil. In: Unterricht Wirtschaft + Politik 1 (1): 54-56. [↩]
20 Schaal, Gray S./Fleiner, Rebekka (2015): Politik der Gefühle. In: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): Emotionen und Politik. Begründung, Konzeptionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 67-89. [↩]
21 Arist. Rhet. = Aristoteles (1980): Rhetorik. übersetzt von Franz G. Sieveke, München: Wilhelm Fink Verlag. [↩]
22 Hanke, Mirja (2016): Zur Relation zwischen Argumentation und Emotion. Eine Studie anhand journalistischer Blogs aus Deutschland und Spanien. Saarbrücken: universaar. [↩]
23 Für eine tiefere Erläuterung der Ebenen Logos, Ethos und Pathos und deren Rolle bei der emotionalen Evokation vergleiche Schröder, Hendrik (2020): Emotionen und politisches Urteilen. Eine politikdidaktische Untersuchung. Wiesbaden: Springer VS. [↩]
24, 25 Till, Dietmar (2008): Rhetorik des Affekts (Pathos). In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research. 1. Halbband/Volume 1, Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 646-669. [↩] [↩]
26 Die Verbindung von Phänomenen und Emotionen unterliegt historischen Konjunkturen. So war etwa die Angst vor Dämonen (Dämonophobie) oder die Angst vor Hexen (Wiccaphobie) in früheren Epochen in zentral Europa weit verbreitetet, wohingegen heutzutage Emotionen wie die Angst vor dem Alleinsein (Isolophobie) oder vor Gewichtszunahme (Obesophobie) deutlich stärker ausgeprägt sein dürften. [↩]
27 Stauber, John/Rampton, Sheldon (2006): Giftmüll mach schlank. Medienprofis, Spin Doctors, Pr-Wizards. Die Wahrheit über die Public-Relations-Industrie. Freiburg: Orange Press. [↩]