WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Klassismus aus Sicht der Politischen Bildung

Noch vor wenigen Jahren richtete sich unsere Gesellschaft in der scheinbaren Gewissheit des gesellschaftlichen Fortschritts ein. Doch das meritokratische Versprechen vom Aufstieg der „Tüchtigen“ scheint auserzählt: Sinkende Einkommen, ausbleibende Jobsicherheit und fehlende Perspektiven treten als überwältigende „Exklusionsdrohung“ auf. Der mögliche Aufstieg weicht mehr und mehr dem tatsächlichen Abstieg. Es stellt sich daher grundlegend die Frage, mit welchen Gesellschaftsbildern wir in der Politischen Bildung arbeiten: Welches Verständnis haben wir von Klasse als Strukturmerkmal und inwiefern begreifen wir Klassismus als reale Diskriminierungsform aufgrund von Klassenherkunft oder -zugehörigkeit? Lässt sich Klasse auch intersektional denken? Und wie können Akteur*innen der Politische Bildung Klassismus eigentlich abbauen? Ein Gespräch mit Dr*in Francis Seeck (Humboldt Universität Berlin) und Charlotte Hitzfelder (Konzeptwerk Neue Ökonomie).

Klasse und Klassismus: Eine erste Klärung

Profession-Politischebildung: Francis Seeck, Charlotte Hitzfelder, Ungleichheit hat in unserer Gesellschaft unterschiedliche strukturelle Hintergründe. Eines davon, so sagen uns Forscher*innen vor allem aus der Soziologie, ist die Tatsache, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Schließen Sie sich der Diagnose an? Leben wir tatsächlich in unserer Gesellschaft strukturiert durch Klasse(n)?

→ Inhalt

Seeck: Ich schließe mich der Diagnose an. Dabei zieht sich, auf individueller Ebene, eine Klassengesellschaft von der Geburt bis zum Tod. Generell ist es so, dass die Klassenherkunft sehr stark die Möglichkeiten im Leben prägen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Lebenserwartung: Arme Menschen sterben durchschnittlich 10 Jahre früher als reiche Menschen. Mittlerweile werden fast 30-40% des Gesamtvermögens vererbt und nicht mehr mit Arbeit erwirtschaftet. Da ist eben die Klassenherkunft sehr bedeutend. Im Bezug auf das Bildungssystem, das Gesundheitssystem aber auch den Kulturbetrieb ist Klasse eine Dimension, die Zugänge beschränkt oder eben ermöglicht.

Hitzfelder: Das sind die Beobachtungen, die wir auch bei dem Konzeptwerk Neue Ökonomie machen. Wir fragen uns, wie funktioniert Wirtschaft, wie kann eine Wirtschaft auch anders funktionieren – jenseits vom Wachstumsdenken. Im Gespräch über eine soziale und ökologische Gerechtigkeit kommen wir recht schnell zu den gesellschaftlichen Strukturen, die Ungleichheit reproduzieren. Es gibt eine immer größer werdende Schere von Arm und Reich. Wirtschaft ist geprägt von Machtverhältnissen: Wer über höhere Bildungszugänge und -hintergründe verfügt, hat es leichter auf dem Arbeitsmarkt und damit leichter Zugriff auf gesellschaftlich einflussreiche Positionen. Wer mehr Vermögen besitzt, kann sich eine besser Bildung, Gesundheit oder Kinderbetreuung leisten, was in unserem wettbewerb- und konkurrenzbasierten Wirtschaftssystem zu erheblichen Vorteilen führt.

"Es dauert durchschnittlich sechs Generationen, um einen einen sozialen Aufstieg zu schaffen. In der öffentlichen Diskussion werden diese Aufsteigergeschichten sehr gerne erzählt. 'Vom Tellerwäscher zum Millionär' ist immer noch ein Narrativ, auf das ganz viele kulturelle Produktionen aufbauen, obwohl dieses Narrativ sehr selten selbst erlebt wird."

Francis Seeck

Profession-Politischebildung: Der Soziologe Prof. Oliver Nachtwey spricht davon, dass wir das Ende des Aufstiegsversprechens erreicht haben. Statt eines sozialen Aufstiegs droht weiten Teilen der Mittelschicht nun auch ein gesellschaftlicher Abstieg. Und dennoch halten wir an der meritokratischen Erzählung fest, dass diejenigen, die sich nur genug anstrengen, es doch schaffen können. Und auch der Umkehrschluss gilt: Wer „unten“ ist, hat es sich dementsprechend selbst zuzuschreiben. rhin meritokratisch Ansprüche verspricht. Lässt sich diese Spannung, die da zwischen versprochenem Aufstieg und erlebten Abstieg entstehen, überhaupt noch auflösen?

Seeck: Natürlich gibt es Leute, die aus armen Verhältnissen kommen und dann in die Mittelklasse oder Oberklasse aufsteigen. Aber das sind die absoluten Ausnahmen. Es dauert durchschnittlich sechs Generationen, um einen einen sozialen Aufstieg zu schaffen. In der öffentlichen Diskussion werden diese Aufsteigergeschichten sehr gerne erzählt. Vom Tellerwäscher zum Millionär ist immer noch ein Narrativ, auf das ganz viele kulturelle Produktionen aufbauen, obwohl dieses Narrativ sehr selten selbst erlebt wird. Es gibt auch im akademischen Kontext immer mehr Bücher, die dann beispielsweise heißen vom Arbeiterkind zur Professur, in denen Aufsteiger*innen ihre Geschichten erzählen. Es gibt jedoch keine Publikationen darüber, dass Arbeiter*innenkinder ihr Studium abgebrochen haben, oder in der Wissenschaft tätig sind aber im prekären Mittelbau geblieben sind und keine Professur bekommen haben.

Wortwolke: Wie haben Teilnehmende der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de den Begriff "Klassismus" beschrieben? (Gwichtung: Je größer ein Begriff abgebildet ist, desto häufiger wurde dieser von den Teilnehmenden genannt)
Wortwolke: Wie haben Teilnehmende der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de den Begriff "Klassismus" beschrieben? (Gwichtung: Je größer ein Begriff abgebildet ist, desto häufiger wurde dieser von den Teilnehmenden genannt)

In unserem Sammelband ‚Solidarisch gegen Klassismus‘ hat Olja Alvir die Metapher der Leiter genutzt: Wenn man sich sozialen Aufstieg als eine Leiter vorstellt, muss gleichzeitig – während eine Person nach oben steigt – eine Person nach unten steigen. In unserer Gesellschaft gibt es immer noch ganz viele Jobs, die schlecht bezahlt sind und/oder kaum anerkannt sind. Ein Großteil der Arbeiter*innenkinder sind nicht aufgestiegen und arbeiten in diesen schlecht bezahlen Jobs. Also: Ich sehe das meritokratische Aufstiegsnarrativ nicht als ein sonderlich förderliches, da es die grundlegenden Missstände in einer Klassengesellschaft nicht sieht und somit auch nicht angeht.

Von Klasse zu Klassismus

Profession-Politischebildung: Bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, was denn Alternativen zu diesem Narrativ wären, noch dieses: Ein Aufstieg oder ein Abstieg ist stark mit Emotionen und Identitätsprozessen behaftet. Eine Person, die einen sozialen Abstieg erlebt, hat dabei auch mit Zuschreibungen von außen zu kämpfen. Hierbei fällt auch der Begriff des ‚Klassismus‘. Was ist das genau?

Seeck: Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus auf Grund der Klassenherkunft kann beispielsweise bedeuten, als Arbeiter*innenkind im Bildungssystem Diskriminierung zu erleben. Die Diskriminierung aufgrund der Klasssenposition trifft in unserer Gesellschaft besonders erwerbslose Menschen, also Menschen die zum Beispiel Arbeitslosengeld II beziehen, wohnungslose Menschen und Personen, die im Niedrig-Lohn-Sektor arbeiten. Diese Menschen erfahren eine gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung. Klassismuskritik wurde geprägt durch feministische, lesbische und intersektionale Debatten der 1970er und 1980er Jahre.

Bei Klassismus handelt es sich also um eine strukturelle Diskriminierungform. Sie kann verinnerlicht werden, wirkt aber auch auf individueller und struktureller Ebene. Das Ziel ist jedoch nicht eine große universitäre Klassentheorie zu entwickeln, sondern eher einen Praxisbegriff. Insofern ist dieser Ansatz auch sehr zielführend für die politische Bildungsarbeit.

Reflexionsprozesse in den Trägern der Politischen Bildung

Profession-Politischebildung: Schauen wir also auf die Praxis. Charlotte Hitzfelder, Sie sind bei dem Konzeptwerk Neue Ökonomie tätig. Wie reflektieren Sie Klassismus bei sich in der Arbeit, aber auch in den eigenen Arbeitsabläufen?

Hitzfelder: Wir reden über Geld. Das fällt Menschen unterschiedlich leicht oder schwer. Wir machen dabei Biographiearbeit: Wo komme ich her, welchen Umgang habe ich mit Geld erlernt, wie verfügbar war und ist Geld für mich? Einerseits gibt es einen Basislohn, orientiert an dem, was wir für unseren Lebensunterhalt, wie Miete, Nahrung, Freizeit brauchen. Falls das Geld für Menschen nicht ausreicht, können sogenannte Stufen gezogen werden und damit etwas mehr verdient werden. Was wir aber nicht wissen, ist das eigentliche Vermögen, Schulden oder anstehenden Erbschaften der Mitarbeitenden. Deswegen haben wir vor ein paar Jahren angefangen, auch über Vermögen zu reden – und nicht nur über das Einkommen. Im Moment probieren wir eine Art interne Erbschaftssteuer in der Organisation aus. Mal schauen, wie das funktioniert.

Diversität
Die Pluralität unserer Gesellschaft muss sich auch in der Didaktik guter politischer Bildung widerspiegeln. Dieses Dossier zeichnet die Grundlagen des didaktischen Umgangs mit Heterogenität nach und führt in die Überlegungen zur Diversität ein.
Dossier

Klassismus, aber auch andere Diskriminierungsverhältnisse, versuchen wir wiederum durch ein anonymes, jährliches Monitoring sichtbar zu machen. Dadurch wird unsichtbares sichtbar, zum Beispiel, dass mehr Menschen, die privilegiert sind im Konzeptwerk tätig sind, also eher weniger von Klassismus betroffen sind. Da stellt sich doch die spannende Frage: Warum ist das so? Bei uns wird das Thema besprechbar, es wird regelmäßig auf die Tagesordnung gerufen, es werden Fortbildungen veranstaltet und besucht. Ein wichtiger Teil ist dabei auch, dass es eine Selbstorganisation von Menschen gibt, die selbst von Klassismus betroffen sind. Sie treffen sich in unregelmäßigen Abständen und sprechen darüber, wie es ihnen geht im Konzeptwerk, wo sie merken, dass die Klassenverhältnisse sich manifestieren. Wer traut sich ein Paper zu schrieben oder einen Artikel, wer ist das und wer nicht? Hier geht es auch um Empowerment.

Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist seit 2011 ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Das Konzeptwerk hat sich mit dem Gedanken gegründet, dass die Wirtschaft dafür da ist, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Die derzeitige Art zu Wirtschaften, schreibt das Konzeptwerk Neue Ökonomie, verfehlt diese Ziele weit: Sie ist undemokratisch und instabil. Sie erzeugt Reichtum für Wenige, aber Ausgrenzung und Armut für Viele. Durch die Umweltzerstörung werden diese Ungerechtigkeiten noch weiter verschärft und unsere Lebensgrundlagen vernichtet. Doch bislang ist die Wirtschaftspolitik vom Wachstumsgedanken dominiert, von Konkurrenz statt Kooperation. Das liegt vor allem an Machtungleichheiten, die zu ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten führen. So können diejenigen, die vom Wirtschaftssystem maßgeblich profitieren, ihre Interessen gegen die Bedürfnisse der Mehrheit durchsetzen.

Um dem zu begegnen, ist eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft dringend notwendig. Dafür gibt es keinen Masterplan: Das Konzeptwerk Neue Ökonomie versteht sich als Teil einer Bewegung, welche viele Wege sucht und zusammenführt. Die nötigen Veränderungen, so das Selbstverständnis des Trägers, sind vielschichtig und bedeuten eine weitgreifende Umstellung unserer Lebenswelt.

Seeck: Spannend! Viele feministische Projekte der 1980/90er Jahre hatten einen Einheitslohn – ganz unabhängig von ihrer Hierarchiestufe haben die Menschen das gleiche verdient. Tatsächlich wurde das in vielen Projekten in den letzten 10 bis 20 Jahren abgeschafft. Insofern finde ich das spannend, dass diese Idee im Konzeptwerk Neue Ökonomie wieder aufgenommen wurde. Die Ungleichheitbezahlung findet ja sonst in der Politischen Bildung statt: Seitdem ich meinen Doktor*innentitel habe, bekomme ich höhere Sätze als Trainer*in der politischen Bildung.  Ich kenne Trainer*innen aus Erwerbsloseninitiativen, die dieses kulturelle Kapital nicht haben und überhaupt nicht bezahlt werden für ihre politische Bildungsarbeit. Ihre materielle Anerkennung ist überhaupt nicht vergleichbar zu meiner. Deswegen finde ich das Sprechen über Honorare, übers eigene Einkommen in der politischen Bildungsarbeit sehr relevant.

Auch ich arbeite in meiner Bildungspraxis viel mit Biographiearbeit. Dabei erkunden wir da eigene Klassenherkunft oder Klassenposition, wann hat man beispielsweise zum ersten Mal gemerkt, dass man selbst Teil einer sozialen Klasse ist. Hier bringen dann die Teilnehmenden beispielsweise Gegenstände oder Bilder mit, die verbunden sind mit ihrer Klasseherkunft. Das sind dann alles Geschichten, die dann sehr komplex sind. Ich denke über Biographiearbeit geht dies gut, aber als Trainer*in muss man dann auch bereit sein, was über die eigene Biographie preiszugeben. Das geht nur, wenn die politischen Bildner*innen sich persönlich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben. Deswegen finde ich Biographiearbeit auch immer sehr voraussetzungsvoll.

"Ich glaube, es ist wichtig in der Bildungsarbeit klarzustellen, dass die eigenen Erfahrungen und Gefühle, die ich im Zusammenhang mit unserem Wirtschaftssystem oder Gesellschaftssystem habe, dass die richtig sind und dass sie da sein dürfen. Sie bilden eine Wahrheit und die eigenen Erfahrungen. Und auch das zähle ich zum Begriff des Wissens hinzu."

Charlotte Hitzfelder (Konzeptwerk Neue Ökonomie)

Möglichkeitsfelder der Politischen Bildung

Profession-Politischebildung: Spannen wir den Bogen nochmal zum Anfang des Gespräches: Innerhalb der Veranstaltung hatten wir unterschiedliche Emotionen und Gefühle benannt, die mit der eigenen Klassenidentität in Verbindung gebracht werden; Stolz, Würde und Sinn. Durch einen Abstieg in der Klassengesellschaft ist unsere Identität sozusagen eine gebrochene, die durch „Misserfolg“ gekennzeichnet ist. Hier gibt es wenig Platz für Stolz, Würde und Sinn. Wie kann hier erfolgreiche politische Bildung intervenieren? Was für Möglichkeitsfelder sehen Sie da, Charlotte Hitzfelder?

Hitzfelder: Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich glaube, es ist wichtig in der Bildungsarbeit klarzustellen, dass die eigenen Erfahrungen und Gefühle, die ich im Zusammenhang mit unserem Wirtschaftssystem oder Gesellschaftssystem habe, dass die richtig sind und dass sie da sein dürfen. Sie bilden eine Wahrheit über die eigenen Erfahrungen . Deshalb zähle ich das zum Begriff des Wissens hinzu. Wissen ist somit nicht nur Bücherwissen, welche von Professor*innen oder Akademiker*innen geschrieben wurden, sondern gelebte Realität der Personen. Als Politische Bildner*in kommen wir in einen Raum oder in ein Seminar mit 20 verschiedenen Teilnehmer*innen. Alle kommen aus einer unterschiedlichen Richtungen, haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Das heißt auch, dass es total unklar ist, wer jetzt alles von wo kommt und wo die Leute stehen; haben sie schon über Klassismus und Ungleichheiten gesprochen – und wenn ja, wie sind die Inhalte angekommen? Führt es zu Irritationen, Betroffenheit oder schieben die Teilnehmenden das Thema von sich weg? Oder möchten sich die Teilnehmenden selbst austauschen und irgendwie Alternativen entwickeln? Für die Politische Bildungsarbeit heißt das: Es gilt Irritationen, bestimmte Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen, sich selbst zu reflektieren, Alternativen darzustellen und neue Handlungsperspektiven oder Felder aufzuzeigen. Und auch vorbereitet zu sein, dass das Emotionen auslöst, die ich als Bilder*in nicht steuern kann.

Ich fühle mich eher nicht gut vorbereitet auf die Thematisierung von Klasse und Klassismus.
0%
Ich fühle mich in Teilen gut vorbereitet auf die Thematisierung von Klasse und Klassismus.
0%
Ich fühle mich gut vorbereitet auf die Thematisierung von Klasse und Klassismus.
0%

Graphik: Ergebnisse der Teilnehmenden-Befragung aus der Veranstaltung „Zementierte Ungleichheit? Klassismus aus Sicht der Politischen Bildung“ vom 30. November 2021.

Seeck: Einerseits geht es um die Situation der politischen Bildner*innen, die wir vorhin schon angesprochen habe. Also wie sind die Einkommensstrukturen, wer kann als politisch bildende Person überhaupt arbeiten. Hier zeigt sich Klassismus vor allem in einer Form der Akademisierung und betrifft besonders Bildner*innen ohne einen akademischen Abschluss. Daran ist häufig die Bezahlung und die Höhe der Bezahlung gekoppelt. Meiner Meinung nach wird kein akademischer Abschluss benötigt, um politische Bildner*in zu sein. Ich denke hier gibt es auch viele Ausschlüsse in alternativen Kollektiven.

Zweitens geht es um das Programm. Wird Klasse, Kapitalismus, Klassismus zum Teil des Programms gemacht? Sind die Inhalte, Konzepte, Methoden, klassismuskritisch?

Drittens geht es um die Teilnehmenden. Wen erreichen wir mit den Angeboten, wen stellt man sich vor, wer wird instrumentalisiert oder wie wird über die Teilnehmer*innen gesprochen? Ich habe lange politische Bildungsarbeit in der Jugendarbeit gemacht, in der auch viel mit sogenannten ‚Brennpunktschulen‘ zusammengearbeitet wurde. Auch da sind sehr klassistische Kommentare gefallen. Alleine die Idee man müsse bestimmten Milieus Politische Bildung näher bringen als anderen. Das passiert auch in der Erwachsenenbildung, wenn Konzepte/Projekte entwickelt werden für Erwerbslose oder wohnungslose Personen oder Personen aus sogenannten Brennpunktviertel – die Konzepte sind meisten von Klassismus durchzogen. Wenn nun Bildungsangebote für Menschen interessant gemachen werden sollen, die nicht auch der bildungsbürgerlichen-, Mittelklasse oder Oberschicht kommen, dann stellen sich die Fragen, über welche Inhalte werden gesprochen, wie werden diese aufbereitet? Aber das ist sicherlich ein Thema, wo noch viele Jahre dran gearbeitet werden kann.

Utopisches Denken in Alternativen?

Profession-Politischebildung: Ich frage mich dabei: Schafft es Politische Bildungsarbeit, utopische Räume zu öffnen,um zum Beispiel Alternativen zu der eben kritisierten meritokratischen Erzählung zu finden? Gäbe es Narrative jenseits von Klasse, Klassismus und „Leistungen“, die Mensch „nicht erfüllen“, die wir uns gesellschaftlich erzählen können und die weniger schmerzhaft und schädigend für eine Vielzahl von Identitätsprozessen sind?

Seeck: Ich glaube, wir können Räume schaffen, die sensibel sind und Utopien spinnen können, in denen sich ausgemalt werden kann, wie unsere Gesellschaft anders aussehen kann. Außerdem gilt es Empowermenträume, in Erfahrungen geteilt werden können, um daran zu wachsen und nun zu sagen, jetzt wollen wir bestimmte Dinge anders machen, wie es im Konzeptwerk Neue Ökonomie ja passiert. Das Erkennen, dass etwas nicht funktioniert und den Entschluss zu fassen, dass wir deswegen unsere Strukturen verändern: So können wir unsere Utopien sogar leben. Der Utopie von weniger Klasse in unserer Gesellschaft versuchen wir näher zu kommen durch das Aufdecken von ungleich verteiltem Vermögen und der anschließenden Umverteilung.

Klasse und Klassismus sind aktuell kein Thema in meiner politischen Bildungsarbeit.
0%

Graphik: Ergebnisse der Teilnehmenden-Befragung aus der Veranstaltung „Zementierte Ungleichheit? Klassismus aus Sicht der Politischen Bildung“ vom 30. November 2021.

Hitzfelder: In der Wirtschaft gibt es eine Art Leitsatz: TINA – „there is no alternative“, zu deutsch „Es gibt keine Alternative“ – dass bezieht sich auf die Annahme, dass wir Wirtschaftswachstum brauchen, um Wohlstand für alle zu schaffen. Wie oben bereits angeführt, schaffen aber die wenigsten einen sozialen Aufstieg. Durch unserer Bildungsangebote und Organisationsstruktur entgegnen wir mit TAMARA – „there are many awesome realistic alternatives“, zu deutsch „Es gibt gibt viele tolle realistische Alternativen“. Wir zeigen auf, dass es Alternativen gibt, die funktionieren, von denen wir lernen können und die inspirieren. Das fängt mit unserem Bildungsverständnis an – und zeigt anhand unserer Organisation an, dass es möglich ist, über Klasse zu sprechen. Und wenn dann auch noch die Erbschaftssteuer funktioniert, zeigen wir ganz praktisch, dass Umverteilung möglich ist!

Seeck: Wir leben nunmal in einer von Machtverhältnissen durchdrungenen Gesellschaft und das wirkt natürlich auch in die politische Bildungsarbeit. Ich stelle in den Workshops am Ende oft die Wunderfrage: Stellen Sie sich vor, Sie schlafen ein und über Nacht geschieht ein Wunder und nun lebt man in einer sozialgerechten Gesellschaft –  und nicht mehr in einer Klassengesellschaft. Was wäre am nächsten Tag anders? Wie würde sich was verändern? Und für uns als Politische Bildner*innen: Welche Rolle hat da politische Bildungsarbeit bei diesem Wunder? Gibt es noch politische Bildungsarbeit in einer sozialgerechten Gesellschaft und was wären dann ihre Themen? Wer wären dann die politischen Bildner*innen, wer wären die Teilnehmer*innen und wie wäre dies alles organisiert?

Dr*in Francis Seeck & Charlotte Hitzfelder

Dr*in Francis Seeck & Charlotte Hitzfelder

Dr*in Francis Seeck ist Kulturanthropolog*in, Geschlechterforscher*in und Antidiskriminierungstrainer*in. Seeck forscht und lehrt zu Klassismus, Sorgearbeit und geschlechtliche Vielfalt, nach einer Vertretungsprofessur für Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Neubrandenburg nun als Post-Doc an der Humboldt Universität Berlin. Im März 2022 erscheint die Streitschrift "Zugang verwehrt - Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert" bei Atrium.

Charlotte Hitzfelder arbeitet seit 2015 beim Konzeptwerk Neue Ökonomie und ist im Netzwerk Care Revolution aktiv. Sie macht dort politische Bildungs- und Vernetzungsarbeit zum Thema Wirtschaft und Care (Sorgearbeit). Seit 2020 ist sie im Tandem Teil der Gesamtkoodination des Konzeptwerks.

Das Gespräch führte David Stein für http://www.profession-politischebildung.de

Vertiefende Dossiers

Diversität
Die Pluralität unserer Gesellschaft muss sich auch in der Didaktik guter politischer Bildung widerspiegeln. Dieses Dossier zeichnet die Grundlagen des didaktischen Umgangs mit Heterogenität nach und führt in die Überlegungen zur Diversität ein.
Dossier
Digitale Praxis
Die politische Erwachsenenbildung wendet sich aktuell vermehrt digitalen Bildungsmöglichkeiten zu und stellt dabei ihre Angebote um. Es ist also höchste Zeit zu reflektieren, wie eine gute, digitale Praxis der politischen Erwachsenenbildung aussehen kann.
Dossier
Geschichte
Die Geschichte der politischen Erwachsenenbildung ist in Deutschland eine lebhafte. Um die heutige Prägung einordnen zu können, bedarf es einer historischen Kontextualisierung, die den verschiedenen Entwicklungsströmen nachspürt und sichtbar macht.
Dossier
Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung