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WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?
Die „Anderen“ empowern?
Versuch einer Begriffsbestimmung für die politische Bildung und pädagogische Praxis
Eine chancengerechte Pädagogik beinhaltet, so die Autor*innen Sakina Abushi & Pierre Asisi, Raum für Ambiguitäts- und Differenzerfahrungen. Sie zeigen dabei den Unterschied zwischen herkömmlicher Zielgruppenarbeit und einer Universalprävention auf. Kritisch reflektiert wird dabei die Auswirkung von Förderlogik, die sich auch in der Wiederholung von Ausschlüssen in pädagogischen Settings auswirken kann. Identitätsfragen stellen dabei die Frage nach Zugehörigkeit und Anschlussfähigkeit von Narrativen, die Menschen ein- oder ausschliessen. Hieraus ableitend formulieren die Autor*innen zwei Empowermentbegriff; den politischen sowie den pädagogischen. Das Modellprojekt „Bildmachen“ unter Trägerschaft des Vereins ufuq zeigt dabei auf, wie pädagogisches Empowerment in der Praxis aussehen kann.
Einleitung
Eine Szene aus einem unserer Workshops an einer Spandauer Schule: Ein junges Mädchen dreht sich mitten in einer Diskussion über islamische Religiosität zu seiner Freundin, die sich rege beteiligt hat, und wundert sich: „Woher weißt du das alles?“ Die stolze Antwort: „Weil ich Muslima bin.“ Eine Woche später an einem Kreuzberger Gymnasium: Ein Mädchen bedankt sich am Ende des Workshops: „Danke, dass ihr so nett zu uns ward. Dass wir endlich mal unsere Meinung sagen konnten, und dass ihr auf Augenhöhe mit uns diskutiert habt.“
→ Inhalt
Eben jenes Mädchen hat eine Stunde zuvor wütend in die Runde gerufen:
„Warum ich sage, ich bin Ausländerin, obwohl ich einendeutschen Pass habe? Ist doch klar: Wenn mir die Deutschen immer wieder sagen, du hast doch schwarze Haare und braune Augen, also bist du Ausländerin – dann sage ich irgendwann: Na gut, dann bin ich eben Ausländerin!“
In Friedrichshain: Ein Junge berichtet, wie seine Mutter immer wieder auf der Straße wegen ihres Kopftuchs beschimpft wird, und wie wütend und hilflos ihn das macht. Sein Klassenkamerad, dessen Mutter vor 20 Jahren zum Islam konvertiert ist, berichtet ganz ruhig von Gesprächen mit seinem Großvater, die ihn belasten: Sein Opa reagiert gereizt, wenn er sich zum Gebet zurückzieht – er versteht ihn einfach nicht und wünscht sich, sein Enkel wäre „ganz normal“.
Pädagogische Räume für Ambiguität und Differenz
Die Erleichterung der Jugendlichen, endlich einmal Raum zu finden, um über ihre eigenen Themen zu sprechen, ist in unseren Workshops oft förmlich spürbar. Sie wissen vielleicht nicht genau, wer in ihrer Klasse welcher Religion angehört – aber ist Differenz einmal ausgesprochen, trauen sie sich auch, einander Fragen zu stellen. Stolz bringen muslimische Jugendliche ihr Wissen in den Unterricht ein und fühlen sich als Expert*innen. Wer sich traut, von Rassismus im Alltag zu berichten, wird gewürdigt statt abgewehrt. Sie verstehen, dass sie mit ihren Entfremdungserfahrungen nicht alleine dastehen – und beraten sich mit ihren Mitschüler*innen über die Frage: Wie wollen wir leben? Unser Angebot richtet sich an alle Jugendlichen unabhängig von ihrer Religion und versteht sich als universalpräventiv: Über den Dialog über Werte, Identität und Zugehörigkeit soll extremistischen Einstellungen jedweder Couleur vorgebeugt werden. Gleichzeitig spielen der Islam und Religiosität für uns eine besondere Rolle: Der Kontext, in dem wir arbeiten, ist geprägt von steigender Islamfeindlichkeit und Rassismus. Viele der Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, sind mit dem Gefühl aufgewachsen, in Deutschland und in der Schule nicht voll dazuzugehören.
"Sie verstehen, dass sie mit ihren Entfremdungserfahrungen nicht alleine dastehen – und beraten sich mit ihren Mitschüler*innen über die Frage: Wie wollen wir leben?"
Sakina Abushi & Pierre Asisi
„Dass letztlich in jedem Muslim, der sich dem Propheten verschreibt, ein suspektes, terrorgefährdetes und schwer zu bändigendes muslimisches Subjekt schlummert, das auf einer Bombe sitzt, die jederzeit und allerorts explodieren kann. […] Das Sicherheitswissen umfasst schließlich auch Formate und Ansätze, die nicht allein auf direkte Gefahrenermittlung ausgerichtet sind. Ein als suspekt geltendes ‚muslimisches Milieu‘ wird auch durch fürsorglich-vorsorgliche Techniken wie Prävention, Bildung oder Dialog zum Erwachen gebracht“ 2.
Fallstricke der Universalprävention
"Wir laufen trotz der eigenen Verortung in der Universalprävention Gefahr, einer Essentialisierung in die Hände zu spielen, die der Förderlogik von Präventionsprogrammen geschuldet ist."
Sakina Abushi & Pierre Asisi
Muslimische Jugendliche – bzw. die, die als solche markiert werden – sind sich dieser Dichotomie und den damit verbundenen negativen Zuschreibungen häufig sehr bewusst. Gerade politisch interessierte Jugendliche reagieren dann sehr skeptisch auf unsere Angebote. Es kann uns passieren, dass Jugendliche
genervt reagieren, wenn schon wieder über „den Islam“ gesprochen werden soll: Mit welchen Absichten? In wessen Auftrag? Diese Sonderbehandlung, einhergehend mit unmittelbarer und struktureller Diskriminierung, kann bei Jugendlichen das Gefühl einer Entfremdung bestärken. Viele fragen sich:
„Wieso ist meine Zugehörigkeit keine Selbstverständlichkeit?“ „Wieso muss ich ständig meine Identität erklären und verteidigen?“ Genau so oft geschieht es aber, dass wir auf Zustimmung und Erleichterung treffen, endlich einmal differenziert über diese Themen sprechen zu können. Damit laufen auch universalpräventive Ansätze Gefahr, Rückzugstendenzen unter Jugendlichen und die Suche nach alternativen Identitäts- und Gemeinschaftsangeboten zu befördern. Sie könnten also theoretisch eine willkommene
Argumentationshilfe für tatsächliche Islamist*innen liefern, deren These ja eben ist, dass Muslim*innen in westlichen Gesellschaften keinen Platz haben.
Identität und Teilhabe in der Umma
Zwei Verständnisse von Empowerment: Politisch und Pädagogisch
Der politische Empowermentbegriff
ufuq.de bemüht sich um Alternativen zu den aufgeregten Debatten um “Parallelgesellschaften”, religiös begründete Radikalisierungen und eine vermeintliche Islamisierung Deutschlands. Wir arbeiten an der Schnittstelle von politischer Bildung, Pädagogik, Wissenschaft und politischer Debatte und informieren, beraten und unterstützen in den Herausforderungen, die sich in der pädagogischen Arbeit in der Migrationsgesellschaft ergeben können. Dabei ist unser Vereinsname Programm: „ufuq“ ist arabisch und heißt „Horizont“. Bei allen Fragen und Konflikten, die sich im Alltag, in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Politik bei der „Einbürgerung des Islams“ ergeben mögen, geht es uns nicht mehr darum, ob diese stattfindet, sondern darum, wie dieser Prozess gestaltet wird. → Mehr zum Beutelsbacher Konsens.
In unserer Arbeit haben wir nicht den Anspruch, eine solche Form des Empowerments zu leisten. Denn politisches Empowerment ist grundsätzlich intransitiv: Man kann Dritte nicht in diesem Sinne „empowern“. Die Verordnung „empowernder“ Programme und Maßnahmen für Minderheiten durch die
Mehrheitsgesellschaft und ihre Institutionen führt den Empowerment-Begriff als politisches Konzept der Selbstorganisation ad absurdum, denn das Ziel solcher Maßnahmen steht von vornherein fest. Zudem verfestigt die Definition von Jugendlichen mit bestimmten religiösen oder sozialen Hintergründen als Zielgruppen von empowernden Maßnahmen gesellschaftliche Differenzen und Annahmen über Defizite und „Probleme“ dieser Gruppe. In der Bestimmung der Zielgruppen spiegelt sich so die binären Herrschaftslogik des „Wir“ und der „Anderen“.
"Es braucht einen macht- und hierarchiefreien Raum und findet eher in aktivistischen Kreisen statt – wohlmeinende pädagogische Interventionen haben in diesem Empowerment-Begriff keinen Platz."
Sakina Abushi & Pierre Asisi über den politischen Empowermentbegriff
Pädagogisches Empowerment in der Praxis: Das Modellprojekt bildmachen
In der Verwirklichung dieses pädagogischen Empowerment-Ansatzes stellen sich für uns verschiedene Herausforderungen. Die erste Herausforderung besteht darin, die Gruppen, mit denen wir pädagogisch arbeiten, nicht zu vereinnahmen oder für sie zu sprechen. Solidarische Pädagogik macht marginalisierte
Stimmen hörbar, denn Jugendliche können sehr gut für sich selbst sprechen – wo es geht, schaffen wir ihnen dafür Raum.
Unsere Workshops sind in jenen Momenten gut, wo wir das Vertrauen haben, auf den Prozess in der Gruppe zu setzen, wo wir der Versuchung widerstehen, Antworten zu geben und stattdessen die richtigen Fragen stellen. Die zweite, daraus folgende Herausforderung ist, dass wir es dann auch aushalten müssen, wenn die, denen wir diesen Raum geben, sich so äußern, wie wir es selbst nicht tun würden, und Positionen und Interessen artikulieren, die wir nicht teilen. Darüber hinaus ist es oft schwer, einer Einteilung in binäre Gegensätze zu widerstehen: Wir sind individualistisch – sie sind familienorientiert; wir sind areligiös – sie sind religiös, etc. Zugleich gilt es, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann Differenzen bestehen, die relevant für die Bearbeitung gesellschaftlicher Themen sind – und wann eine Betonung von Differenzen die Binarität von „Wir“ und „die Anderen“ noch verstärkt. Wir wollen keine Pädagogik betreiben, die als Fürsprecherin für
„die Anderen“ auftritt und sie dabei als Gruppe erst konstruiert.
Dieser Ansatz lässt sich am Beispiel unseres Modellprojekts bildmachen veranschaulichen, das durch das Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ gefördert wird. Das Projekt fördert die kritische Medienkompetenz von Jugendlichen im Umgang mit extremistischen Ansprachen. Unser langfristiges Ziel ist es, Jugendliche zu bestärken, eigene Perspektiven zu gesellschaftlichen, politischen sowie religiösen Fragen zu entwickeln. Die Jugendlichen lernen, Memes und Gifs zu gestalten, die sich für kurze Botschaften in Sozialen Medien besonders eignen und sich auch auf dem eigenen Smartphone leicht erstellen lassen. Dabei geht es auch um den Spaß an der Sache, denn Memes und Gifs leben von ihren kurzen und oft witzigen Botschaften. Zugleich erfahren die Jugendlichen, wie sie ihre Memes und Gifs auf Online-Plattformen teilen und sich somit selbst in Debatten einbringen und diese mitgestalten können. Die Jugendlichen machen durch ihre eigenen Arbeiten alternative Antworten zu religiösen und lebensweltbezogenen Fragen sichtbar.
(Klicken, um Memes größer darzustellen. Quelle: https://www.bildmachen.net/hall-of-meme/)
Der Ansatz in den Workshops ist dabei sehr offen, die Jugendlichen sollen möglichst selbst die Themen bestimmen. Der Einstieg gelingt zumeist über „universelle Themen“ und die persönliche soziale Mediennutzung. Wir erzwingen die Thematisierung von Islamismus bewusst nicht. Die Erfahrung aus den
Workshops zeigt auch, dass nur wenige Jugendliche das Thema selbst auf die Agenda setzen, sehr viele aber etwas zu Rassismus und Hate Speech zu sagen haben. Angesichts der Bedeutung von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen in Radikalisierungsprozessen entwickeln die Workshops hier eine präventive Wirkung, indem sie Räume für Anerkennung und Reflexionen über Strategien des Umgangs mit entsprechenden Erfahrungen anbieten. An dieser Stelle kann es durchaus zu den eingangs beschriebenen „empowernden Momenten“ kommen, wenn die eigenen Erfahrungen ernst genommen und gemeinsam Gegenstrategien besprochen werden.
Fazit
ufuq.de ist in den letzten Jahren stetig gewachsen – aus einem kleinen Zweimannprojekt ist im Laufe der Jahre eine mittelgroße Organisation mit über zwanzig Beschäftigten geworden, die verschiedenste professionelle und persönliche Hintergründe mitbringen und in einer Vielzahl verschiedener Projekte arbeiten. Es bleibt eine Herausforderung für uns, die Begriffe und Konzepte, mit denen wir arbeiten, stets neu zu formulieren und auf ihre Praxistauglichkeit zu prüfen. Insofern kann dieser Artikel nur ein Einblick sein in Prozesse, die fortdauern, und offene Fragen abbilden, die weiter diskutiert werden. Wir fragen uns regelmäßig, was wir eigentlich brauchen, um tatsächlich empowermentorientierte Räume schaffen zu können. Was bedeutet unser Anspruch einer solidarischen, rassismuskritischen Pädagogik für unsere praktische Arbeit?
ufuq.de ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und in der politischen Bildung und Prävention zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus aktiv. Mit unseren Angeboten sind wir bundesweit Ansprechpartner für Pädagog*innen, Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen von Behörden.
Dabei geht es auch darum, den Blick nicht nur auf aktuelles Geschehen zu werfen, sondern auch Fragen nach geschichtlichen und weiteren gesellschaftlichen Kontexten aufzuwerfen. So spielen für uns historische Prozesse in der Gesellschaft, aber auch biographische Erfahrungen und Erzählungen eine wichtige Rolle, um auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. So stehen momentane Zugehörigkeitsdiskurse auch im Zusammenhang mit historischen Ausschlussbewegungen, während sich am Beispiel von Migrationsbiographien sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Entwicklungen aufzeigen lassen, die bis in den heutigen Alltag nachwirken. Diese Beschäftigung mit Geschichte kann ein Weg sein, um Migration als normales gesellschaftliches Phänomen, das zu jeder Zeit präsent war, einzuordnen, und zugleich Leistungen der Elterngeneration von Jugendlichen mit Migrationsbiographien zu würdigen.
Wir sind uns zweitens bewusst, dass pädagogische Ansätze allein nicht ausreichen, und dass wir größer denken müssen. Wenn es der Anspruch einer rassismuskritischen Pädagogik ist, nicht lediglich eine Umverteilung (von materiellen Gütern, Ressourcen, Macht, Anerkennung), sondern eine Abkehr von binären Logiken zu bewirken, dann müssten unsere pädagogischen Angebote an Jugendliche noch stärker als bisher von strukturellen Maßnahmen flankiert werden, die politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen einbeziehen und sich an die Institutionen richten, die sie umgeben. Das können konkrete politische Interventionen, Versuche der Netzwerkbildung oder auch verpflichtende Angebote an pädagogisches Personal sein. Es wäre denkbar, Workshops für Jugendliche zum Thema Islamismus nur dann anzubieten, wenn diese durch Fortbildungen für Mitarbeiter*innen der jeweiligen Einrichtung zum Thema Islamfeindlichkeit begleitet werden. Bisher scheitern solche Arrangements häufig an institutionellen Hürden wie fehlender zeitlicher Ressourcen der Pädagog*innen – oder schlicht an einer fehlenden Bereitschaft, sich in
solchen Fortbildungen auch mit eigenen Haltungen und Positionen zu beschäftigen.
Wir stehen drittens vor der Herausforderung, in unserer Arbeit die richtigen Fragen zu stellen. Islamfeindlichkeit und Islamismus sind zeitgenössische Phänomene des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Polarisierung unserer Gesellschaft, die wir aktuell erleben, steht insofern auch in direktem Zusammenhang
mit den strukturellen Bedingungen einer neoliberal entgrenzten Gesellschaft.
Der Versuch, neue Grenzen zu ziehen (sowohl innergesellschaftliche als auch nationalstaatliche), kann als Antwort auf diese Entgrenzungen und die obsessive Beschäftigung mit „den Muslimen“ („den Migranten“, „den Ausländern“, „den Flüchtlingen“,…) als Ausweichbewegung verstanden werden16. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es tatsächlich um die Integration „der Anderen“ geht – oder ob nicht vielmehr Verteilungsfragen und strukturelle Fragen über Ungleichheit im Mittelpunkt stehen müssten?
Müssen Pädagog*innen darüber nachdenken, wie man verhindern kann, dass junge Muslim*innen sich radikalisieren? Oder darüber, welche identitätsstiftenden Angebote man jungen Menschen aller Hintergründe im Deutschland der Gegenwart machen kann
Wir plädieren viertens für eine qualitativ hochwertige und breit zugängliche politische Bildung und denken, dass diese der beste Weg zu demokratischer Mündigkeit und der beste Garant gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in all ihren Formen ist. Politische Bildung sollte als Recht Aller verstanden werden, anstatt – im Sinne der Extremismusprävention – eine ganze Generation als gefährdet zu betrachten. Politische Entscheidungsträger*innen sollten sich hierbei an den Bedarfen junger Menschen orientieren und nicht an den herrschenden Diskursen, die sie als Problem definieren. Dabei muss politische Bildung auch den Raum bieten, über politische und gesellschaftliche Alternativen nachzudenken, ohne junge Menschen vorschnell unter Extremismusverdacht zu stellen
Die Dilemmata und Herausforderungen, die wir hier beschrieben haben, sind letztlich nicht vollständig zu lösen. Wir müssen mit der Notwendigkeit leben, uns beständig selbst zu hinterfragen: Tragen wir mit diesem oder jenem Projekt dazu bei, dass das Narrativ von „den Muslimen“ als „den Anderen“ weiter festgeschrieben wird? Tragen wir überhaupt zur Normalisierung von Diversität bei? Was bedeutet es für uns als Organisation, wenn wir auf finanzielle Arbeitsanreize staatlicher Förderprogramme reagieren, die letztlich wesentlich in Sicherheitsdiskursen und -interessen begründet sind? Offen bleibt für uns beispielsweise die Frage, inwiefern es notwendig ist, den Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, den Kontext transparent zu machen, in dem sie angesprochen werden. Haben sie das Recht darauf, zu erfahren, aus welchem Grund ihnen ein pädagogisches Angebot gemacht wird? Oder vertun wir uns damit die Chance auf eine vertrauensvolle pädagogische Begegnung, von der sie (und wir) noch lange profitieren werden?
Wir können nicht ignorieren, dass wir die binäre Logik von „Wir“ und „die Anderen“ durch speziell auf eine Zielgruppe zugeschnittene pädagogische Angebote reproduzieren. Das gilt auch, wenn diesem Angebot der Versuch eines Empowerments oder einer Redistribution zugrunde liegt und wenn wir diese
pädagogischen Angebote durch eine Dekonstruktion binärer Logiken flankieren. Andererseits können wir auch real existierende Ungerechtigkeiten und Ungleichverteilungen nicht ignorieren. Die Diskriminierung der Jugendlichen und ihre Markierung als „muslimisch“ sind für sie real und haben reale Konsequenzen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass es trotz aller Widersprüche möglich ist, pädagogisch empowernd zu arbeiten und den Jugendlichen Räume zu geben, die für das Gelingen von Pluralismus, Demokratie und Miteinander wichtig sind. Solange wir unsere Arbeit als für die Jugendlichen sinnhaft erleben, müssen wir mit diesem Widerspruch leben und ihn so gut wie möglich navigieren
Sakina Abushi
Sakina Abushi ist Islamwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei ufuq.de in Berlin. Sie ist verantwortlich für den Wissenschaftstransfer und die inhaltliche Betreuung der Webseite. Abushi studierte Islamwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Berlin, Kairo, Ramallah und Damaskus.
Pierre Asisi
Pierre Asisi ist Politikwissenschaftler und Leiter des Projektes “kiez:story – ich sehe was, was du nicht siehst”. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Online-Präventionsprojekt “bildmachen”. Bevor er zu ufuq.de kam, leitete er ein Projekt zur Unterstützung von jungen Geflüchteten beim Übergang von Schule und Ausbildung in Spandau.
1, 5, 16 Franz, Julia (2018): Verfremdungen: Muslim*innen als pädagogische Zielgruppe. In: Amir, Moazami, Schirin (Hrsg.): Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld: transcript, S. 309–334. [↩] [↩] [↩]
2 Amir-Moazami, Schirin (Hrsg.) (2018): Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld: transcript. [↩]
3 Reicher, Fabian (2015): Deradikalisierung und Extremismusprävention im Jugendalter – Eine kritische Analyse. In: Soziales*Kapital – Wissenschaftliches Journal Österreichischer Fachhochschul-Studiengänge Soziale Arbeit, Nr. 14 (2015), S. 243–265. [↩]
4 Fava, Rosa (2015): „Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse.“ Berlin: Metropol-Verlag. [↩]
6 Nordbruch, Götz (2016): „Salafismus – Ideologie, Bewegung, Hintergründe“. http://www.ufuq.de/salafismus-ideologie-bewegung-hintergruende/ (Abfrage: 23.01.2019) [↩]
7 OCCI (2018): „Generation Islam und Online-Islamismus – Im Interview mit Pierre Asisi“. www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2018/06/IR-Juni-OCCI*DE.pdf (Abfrage: 23.01.2019) [↩]
8 European Commission (2018): Call for proposals on the Civil Society Empowerment Programme (CSEP) – campaigns with counter and alternative narrative to radicalisation implemented by Civil society organisations, ISFP-2018-AG-CT-CSEP, 10. Oktober 2018.
www.ec.europa.eu/research/participants/data/ref/other*eu*prog/other/home/call-fiche/isfp-call-fiche-2018-ag-ct-csep*en.pdf (Abfrage: 23.01.2019) [↩]
9 Rosenstreich, Gabi (2018): Empowerment und Powersharing – eine Einführung. In: Überblick: Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 2(2018), S. 7–10. [↩]
10 Lorde, Audre (1984): “The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House”. In: Lorde, Audre (2007): “Sister Outsider: Essays and Speeches”, Ed. Berkeley, CA: Crossing Press, S. 110–114. [↩]
11 Herriger (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit: Eine Einführung. 5. Auflage. Stuttgart: W. Kohlhammer [↩]
12 Theunissen, Georg (1998): Eltern behinderter Kinderals Experten in eigener Sache. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 1998, 49/3, S. 100–105. [↩]
13 Broden, Anne (2018): Rassismuskritische Bildungsarbeit. Herausforderungen – Dilemmata – Paradoxien. In: Fereidooni, Karim; El, Meral (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer, S. 819–835. [↩]
14 Mecheril, Paul (2018): Solidarität als Anspruch rassismuskritischer politscher Bildung. In:
Überblick: Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 2(2018), S. 3–6. [↩]
15 Eser Davolio, Mirjam/Lenzo, Daniele (2017): „Hintergrundrecherche: Gegennarrative und alternative Narrativen“. www.jugendundmedien.ch/fileadmin/user*upload/2*Chancen*und*Gefahren/Radikalisierung*Extremismus/Bericht*Gegennarrative*Eser*Lenzo*2017.pdf
(Abfrage: 23.01.2019) [↩]