WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Politische Bildung in der Turbo-Digitalisierung: Zwischen Zoom- Fatigue und zukunftsgerechter Transformation

Nach einem Jahr der Turbo-Digitalisierung ist es allerhöchste Zeit für eine kritische Zwischenbetrachtung: Wo stehen wir heute mit unseren digitalen Bildungsangeboten und didaktischen Konzepten in der Politischen Bildung? Neben optimistisch stimmenden Fortschritt schauen wir im Gespräch mit Nele Hirsch vom eBildungslabor schauen wir gleichzeitig auf Grenzen der Digitalisierung. Denn: Neben der Erschließung neuer Zielgruppen scheinen sich neue Ausgrenzungsmechanismen festzusetzen und „Gegenöffentlichkeiten“ zu zementieren.

Der Corona-Turbo als Beschleuniger der Digitalisierung

Profession-Politischebildung: Das Jahr 2020 hat uns alle vor große Herausforderungen gestellt. Die Politische Bildung hat vermehrt mit einer großen Digitalisierungsoffensive geantwortet. Mit ein wenig Abstand schauen wir nun auf diese Turbo-Digitalisierung zurück: Aber was sehen wir? Wo stehen wir heute mit unseren digitalen Bildungsangeboten und didaktischen Konzepten in der politischen Bildung?

→ Inhalt

Hirsch: Ich teile den Eindruck, dass diese Corona-Pandemie sehr viel angestoßen hat. Viele Pädagog*innen standen vor der neuen Herausforderung: Das was wir vorher analog gemacht haben, müssen wir jetzt plötzlich in den virtuellen Raum transferieren.

Ich bin noch etwas skeptisch bei der Frage, ob sich tatsächlich auch die Art und Weise von Bildungsprozessen verändert hat. Eventuell hat ausschließlich eine 1:1-Übertragung von analogen Bildungskonzepten auf den virtuellen Raum stattgefunden. Ich finde: Das kann es noch nicht sein, was wir wirklich erreichen sollen und wollen. Denn es geht nicht darum, dass Bildung digitaler wird – es geht darum, dass erkannt werden muss, dass wir heutzutage alle in einer Kultur der Digitalität leben. Deswegen muss auch Bildung, Lernen und Lehren, in dieser Kultur der Digitalität gestaltet werden.

"Ich glaube, die aktuelle Lage ist tatsächlich eine große Chance sowohl für flexibles Lernen sowie für personalisiertes, individualisiertes Lernen."

Nele Hirsch
Profession-Politischebildung: Unser Eindruck ist, dass wir uns konzeptionell dennoch sehr an den Dingen orientieren, die wir aus der Präsenz kennen. Was macht aus digitalen Konzepten schließlich etwas spezifisch digitales? Ist es der Vorzug der Flexibilisierung? Also, dass wir in der Richtung von asynchronen Arbeiten voranschreiten werden?

Hirsch: Ich denke, das politische Bildung im digitalen Raum dafür sehr großes Potenzial hat. Mit früheren Strukturen verbinden wir: Wir haben eine Bildungsveranstaltung da fahren wir alle hin. Dafür haben wir uns einen Tag freigeräumt und dieser ist anschließend wieder zu Ende. Nun gibt es Flipped-Materialien, die sich vorab angeschaut werden können. Lernende können sich untereinander schon im Vorlauf asynchron austauschen. Anschließend gibt es eine kurze synchrone Phase, die gezielt genutzt wird, um sich auch hier vermehrt auszutauschen. Dieses Angebot gestaltet sich offener und flexibler für alle Teilnehmenden. Das Potential dabei ist, dass mehr Menschen erreicht werden, für die es ansonsten nicht möglich ist, den ganzen Tag weg zu fahren. Beispielsweite ein Elternteil mit zwei Kindern zu Hause kann dann auch sagen: „Ach ich habe jetzt Lust zu lernen. Ich guck mir das mal zwischendrin an und dann bin ich sozusagen mit dabei.“

Wortwolke: Wie haben Teilnehmende der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de die Turbo-Digitalisierung in der Politischen Bildung wahrgenommen? (Gwichtung: Je größer ein Begriff abgebildet ist, desto häufiger wurde dieser von den Teilnehmenden genannt)
Wortwolke: Wie haben Teilnehmende der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de die Turbo-Digitalisierung in der Politischen Bildung wahrgenommen? (Gwichtung: Je größer ein Begriff abgebildet ist, desto häufiger wurde dieser von den Teilnehmenden genannt)

Das andere ist, dass das Lernen viel personalisierter werden wird. Gerade durch Inputphasen und die Verfügung von Flip kann das Lernen gezielt im eigenen Tempo durchgeführt werden. Also wenn ich jetzt irgendwas schon kenne und mich mit irgendwas auseinandergesetzt habe, dann muss ich mir dazu nicht mehr das Erklär-Video anschauen. Ist es aber ein ganz neues Thema für mich, dann kann ich mir das mehrmals anschauen, kann zwischendrin stoppen, etc. Ich glaube, das ist tatsächlich eine große Chance sowohl für flexibles Lernen als auch für personalisiertes, individualisiertes Lernen.

Die Rolle der Sozialen Medien

Profession-Politischebildung: Beim Thema Digitalisierung finden wir uns, als politische Bildner*innen, recht schnell bei den Debatten rund um soziale Medien wieder. Eigenen sich alle soziale Medien für die politische Bildungsarbeit?

Hirsch: Ich würde sagen soziale Medien sind per se eine Herausforderung für die politische Bildungsarbeit. Inhaltlich geht es hierbei auch um die Fragen: Wie kommunizieren wir?, Wie entstehen Meinungen? Wie kann ich eine eigene Position zu einem bestimmten Thema finden? All das findet in der Kultur der Digitalität nicht nur, aber maßgeblich über soziale Medien statt. Darum muss die politische Bildung soziale Medien sowohl als Lerninhalt als auch als mediale Form der eigenen Kommunikation aufgreifen.

Graphik: Diese Social Media-Kanäle werden in der Politischen Bildungsarbeit verwendet. (TN-Befragung im Rahmen der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de)
Graphik: Diese Social Media-Kanäle werden in der Politischen Bildungsarbeit verwendet. (TN-Befragung im Rahmen der Veranstaltungsreihe von Profession-Politischebildung.de)

Profession-Politischebildung: Heißt es also, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu stellen? Es scheint uns, dass sich hier neue konstruktive Konstellationen, aber auch Konkurrenzen ergeben: Sehr dynamischer und sehr guter Content auf Youtube ist schnell klick- und konsumierbar. Steht das nicht dem Bildungsdenken von politischen Bildner*innen entgehen,  welche die analytische Auseinandersetzung und das reflexive Gespräch suchen?

Hirsch: Ich glaub, es gibt immer mehrere Sachen parallel. Ich kann selbst sehr reflexiv über etwas nachdenken und mich trotzdem über einen kurzen Clip, den ich auf TikTok finde, freuen, in dem ich schnell und kurz lernen kann und einfach konsumieren kann. Da würde ich erstmal nicht mit einem entweder-oder Denken argumentieren, sondern ich glaube durchaus, dass Menschen fähig sind auf unterschiedlichen Arten und Weisen lernen zu können. Dann ist es erstmal eine gute Sache, dass man ihnen diese Vielfalt? ermöglicht.

Digitale Praxis
Wie unterscheidet sich die digitale, didaktische Arbeit von klassischen Präsenzformaten, was ist eigentlich das volle Potential von Onlinekursen und wie verändert sich dabei die Rolle von politischen Bildner*innen?

Dieses Dossier widmet sich dem Umbruch- und Transformationsprozess der Digitalisierung. Neben spannenden (Fach)Artikeln präsentieren wir auch gelungene Best-Practice-Beispiele, welche den Weg weisen können in eine gute digitale Praxis.
Dossier

Profession-Politischebildung: Und dennoch sprechen wir über Informations- und Filterblasen, die unsere Gesellschaft zu fragmentieren drohen. Gegen-Öffentlichkeiten, so eine oftgehörte Einschätzung, verhindern demokratisierenden Dialog. dialogisch miteinander sprechen. Dann halten plötzlich keine Vielfalt der Kommunikation in unseren Händen, sondern stehen vor einer versärkten Fragmentierung. Was bedeutet das für die digitale politische Bildung?

Hirsch: Ich stimme zu. Das findet als ein gesellschaftlicher Prozess statt und ich teile den Eindruck, dass Filterblasen eine große Gefahr darstellen kann. Andersrum gedacht aber, wenn ich wieder mit positivem Blick auf die politische Bildung schaue; Genau deshalb gibt es die politische Bildung, weil sie doch Räume schaffen kann, in denen ein Austausch stattfindet. Wir als politisch Bildende versuchen mit Menschen zu reflektieren: Woher bekomme ich denn meine Informationen, befinde ich mich hier wirklich in einer reinen Filterblase oder bekommen ich auch aus unterschiedlichen Perspektiven Content vorgeschlagen? Auch da würde ich sagen: Gesellschaftlich ist das eine große Herausforderung und deshalb eben auch eine Herausforderung für die politische Bildung. Diese kann viel dazu beitragen, dass der digitale Austausch in eine sinnvolle gesellschaftliche Richtung steuert.

Möglichkeiten der Aufsuchenden Politischen Bildung im digitalen Raum

Profession-Politischebildung: Das bedeutet, Stichwort aufsuchende politische Erwachsenenbildung, dass wir nochmal ganz neue Formate anzuschauen haben?

Hirsch: Aufsuchende politische Erwachsenenbildung ist tatsächlich eine große Stellschraube. Im analogen Raum war es, so glaube ich, einfacher entweder Räume zu schaffen oder auch zu Räumen hinzugehen, die eben schon bestehen, in denen dann mit Menschen in Austausch und Kommunikation getreten werden konnte. Das ist in einem Online-Raum oder einem virtuellen Raum auch möglich, aber erstmal doch relativ herausfordernd. Also dann gibt es eben die Telegram-Gruppen, in denen in irgendeiner Form gehetzt oder geschimpft und sich gegenseitig in dieser Meinung bestätigt wird. Es gibt bekanntermaßen widerliche Facebook-Kommentare – dieses auszuhalten und sich anschließend zu überlegen, wo kann denn da jetzt die aufsuchende politische Erwachsenenbildung sein – eine Herausforderung und wichtige Aufgabe!

"Eine Webseite aufzusetzen in der Mythen entlarvt werden, die in Telegramm-Gruppen kursieren, reicht nicht. Ich muss mir also die Frage stellen, wie erreichen die sehr klug und reflexiv aufgearbeiteten Mythen dieser Webseite überhaupt Menschen in etwaigen Telegramm-Gruppe."

Nele Hirsch

Profession-Politischebildung: Vor allem klingt das eher nach Konfrontation. Wenn wir uns vorstellen, wir treten einer Telegramm-Gruppe bei und wollen jetzt politische Bildung machen, ob wir das jetzt undercover machen oder für alle sichtbar als Institution sei dahingestellt, klingt das doch nicht nach dem reflexiven Raum, der uns in der politischen Bildung vorschwebt.

Im Jahr 2021 drängen wir eigentlich zur "alten" Präsenzlehre zurück.
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Wir wollen neue, digitale Veranstaltungsformate ergänzend in unser Bildungsangebot aufnehmen.
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Wir planen unser ganzes Angebot "zweigleisig", also analog oder ausweichend digital.
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Wir nehmen Mischformen auf: Hybrid soll es werden!
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Für dieses Jahr gilt "nur noch digital!" - denn: Sicher ist sicher.
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Graphik: Ergebnisse der Teilnehmenden-Befragung aus der Veranstaltung „Standortbestimmung Politischer Bildung im digitalen Raum: Zwischen Zoom- Fatigue und zukunftsgerechter Transformation“ vom 24. Februar 2021.

Hirsch: Grundsätzlich geht es um die Frage, wie können überhaupt Menschen erreicht werden. Eine Webseite aufzusetzen in der Mythen entlarvt werden, die in Telegramm-Gruppen kursieren, reicht nicht. Ich muss mir also die Frage stellen, wie erreichen die sehr klug und reflexiv aufgearbeiteten Mythen dieser Webseite überhaupt Menschen in dieser Telegramm-Gruppe. Es gilt sich hierbei zu überlegen, was wird Menschen angeboten, die aufgeschlossen und zumindest offen sind und weiter denken wollen in dieser Telegramm-Gruppe. Was bietet man denen für Möglichkeiten? Bekommen, diese Menschen irgendein kleines Argument an die Hand, welches sie dann teilen können in dieser Telegramm-Gruppe oder bekommen sie nur ein 30-seitiges PDF, in dem alles ausführlich dargestellt wird. Und letzteres hilft diesen Menschen wahrscheinlich nicht und dann startet dort auch keine politische Bildung.

Apps – mehr als ein Snack zwischendurch?

Profession-Politischebildung: Unter dem Aspekt betrachtet, wie beurteilen Sie denn dann die ganzen Apps, die im Moment auch von Seiten der Politischen Bildung lanciert werden? Die Apps, die vielleicht nochmal kurz an der Bushaltestelle genutzt werden können. Hierbei wird oft möglichst niedrigschwellig auf Aspekte der Gamification gesetzt – also auf spielerische Ansätze, die auch Spaß machen sollen.

Hirsch: Apps sind ein total wertvolles und wichtiges Angebot, bei dem Menschen sich überhaupt niederschwellig informieren können und bei dem Menschen auch sehr schnell, microcontent-mäßig, Inhalte lernen können. Das ist eine großartige Sache, aber Apps dürfen eben auch nicht überschätzt werden. Für den Schritt, dass eine Person sich diese App herunterlädt, muss diese überhaupt erst mal erkannt haben, das ein Problem oder eine Herausforderung vorliegt – und dann auch den Willen aufbringt, etwas dazu lernen zu wollen. Diese App zu erstellen ist also das eine, die andere Frage ist, wie diese App dann überhaupt bei möglichst zahlreichen Menschen kommt.

Finanzierung und Monetarisierung

Profession-Politischebildung: Wir sind in der Turbo-Digitalisierung, 2020 sehr oft in Vorleistung gegangen. Das bedeutet, dass viele Bildungsangebote kostenfrei zugänglich gewesen sind. Es war die Sternstunde für Niedrigschwelligkeit, in Bezug auf persönliche finanzielle Hürden. In der politischen Bildungslandschaft gibt es einige Träger, die nun bereits planen für ihre Angebote Teilnahmegebühren zu erheben. Ist das der nächste logische Schritt, dass wir Teilnahmegebühren erheben oder ist das in einer Welt voller YouTube, Mediatheken, Twitter & Co. kaum durchführbar?

Hirsch: Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass Bildung und damit dann eingeschlossen auch Politische Bildung eine öffentliche Herausforderung ist und das dann auch öffentlich finanziert werden muss.

Wir wollen in Zukunft unsere digitalen Bildungsangebote mit Teilnahmegebühren versehen.
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Graphik: Ergebnisse der Teilnehmenden-Befragung aus der Veranstaltung „Standortbestimmung Politischer Bildung im digitalen Raum: Zwischen Zoom- Fatigue und zukunftsgerechter Transformation“ vom 24. Februar 2021.

Ich selbst arbeite im Bildungslabor nach dem Geschäftsmodell des Teilens. Das bedeutet, wenn ich Lehrmaterialien, Bildungsmaterialien und Bildungsinhalte erstelle, dann vereinbare ich, dass diese unter einer offenen Lizenz anschließend zur Verfügung stehen. Das führt dazu, dass die Bildungsinhalte dann auch allen zur Verfügung stehen und vor allem auch von allen weiter genutzt und angepasst werden können. Das halte ich grundsätzlich für eine sehr nachhaltige Herangehensweise an Bildungsfinanzierung. Etwas platt gesprochen: Es ist  Blödsinn, dass jede Organisation, jede Pädagogik oder jede*r Pädagog*in das Rad immer wieder neu erfindet. Ich glaube durch dieses Prinzip öffentlicher Finanzierung und offenen Teilens kann Bildung und gerade auch Politische Bildung für alle besser werden und sich auch besser verbreitet.

Nele Hirsch

Nele Hirsch

Nele Hirsch ist Bildungswissenschaftlerin mit dem Fokus auf Lernen unter den Bedingungen der Digitalität. In dem von ihr gegründeten eBildungslabor unterstützt sie Bildungsakteure von Schule bis zur Erwachsenenbildung bei der Umsetzung zeitgemäßer Bildung. Nele twittert via @ebildungslabor und bloggt auf ebildungslabor.de

Das Gespräch führte David Stein für http://www.profession-politischebildung.de

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