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WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?
Deutungshoheiten in der politischen (Demokratie-)Bildung
Die letzten Jahrzehnte haben zu sozialen und politischen Schieflagen geführt, die auch die politische Bildung vor neue Herausforderungen stellen. Ihr klarer Bezug zu demokratischen Grundrechten wird dabei aktiv von antidemokratischen Kräften bekämpft. Das Konzept der politischen Bildung in der Demokratie wird dabei grundsätzlich infrage gestellt. Was bedeutet dies konkret für die Rolle der Bildungsträger und politische Bild-ner*innen? Wo positionieren wir uns in einer Gesellschaft, die durch immer weitere Diskursverschiebungen und Gewalt polarisiert wird? Und wo liegen die emanzipatorischen Chancen fürechte Teilhabe und solidarisches Dagegenhalten? Prof.in Julika Bürgin im Gespräch über die Möglichkeiten der Politischen Bildung, für echte Mündigkeit zu sorgen.
Von den Zielen der Mündigkeit …
Profession-Politischebildung: Seit Anfang den 80ern steigt die Ungleichheit sowohl ökonomisch als auch sozial. Dies stellt auch die Stellungnahme der Zentralen für Politische Bildung fest. Es kommt hinzu, dass der politische Diskurs strategisch von rechten Akteur*innen verschoben wird. Die Stellungnahme begreift dieses als einen Angriff auf den demokratischen Konsens innerhalb der politischen Bildung. Schließen Sie sich dieser Ansicht an?
→ Inhalt
Bürgin: Dieser Ansicht schließe ich mich nicht an, denn es gibt keinen demokratischen-menschenrechtlichen Konsens. Selbst wenn man diejenigen ausnimmt, die den Angriff betreiben, bleibt kein Konsens, denn die Frage, was Demokratie bedeutet, bleibt höchst umstritten. Das betrifft auch die politische Bildungsarbeit: Auch dort gibt es keinen Konsens darüber, was wir überhaupt unter Demokratie zu verstehen haben und worin ihre Kernprinzipien bestehen.
"Mündigkeit schließt die Möglichkeit grundlegender Kritik an den Verhältnissen ein. Das geht nur, wenn der politischen Bildungsarbeit das Recht auf Kritik zugestanden wird."
Prof.in Julika Bürgin
Profession-Politischebildung: Sie verweisen dabei auf die Arbeiten von Alex Demirovic (2018), welcher formuliert, dass die Demokratie selbst das Hauptfeld der Auseinandersetzung darstellt. Welche Demokratie brauchen wir für die politische Bildung?
Bürgin: Zunächst ist die politische Bildungsarbeit – und da gibt es einen breiten Konsens – auf so etwas wie Mündigkeit bedacht: Mündigkeit gegenüber politischen Verhältnissen und Mündigkeit als Voraussetzung für das eigene politische Handeln. Mündigkeit schließt die Möglichkeit grundlegender Kritik an den Verhältnissen ein. Das geht nur, wenn der politischen Bildungsarbeit das Recht auf Kritik zugestanden wird. Und hier gelangen wir schnell zum Extremismuskonzept, welches selektiert, wer legitime Träger, wer legitime Mitarbeitende und was legitime Fragestellungen sind, die aufgeworfen werden dürfen.
… zur Deutung in der Förderlandschaft
Profession-Politischebildung: Können Sie dieses genauer erläutern?
Bürgin: Durch Ausweitung der Programmförderung bei gleichzeitigem Rückgang der institutionellen Förderung entsteht die Notwendigkeit, immer weitere Bereiche der politischen Bildungsarbeit als Projekte zu konzipieren. Damit wird die Autonomie der freien Träger schwerwiegend eingeschränkt. Die Träger müssen ihre Arbeit immer umfassender den ausgeschriebenen Programmen unterwerfen. Das nimmt ihnen die Freiheit, selbst Themen zu setzen und auf das zu reagieren, was ihre potenziellen Teilnehmenden an Themen gesetzt haben möchten, wo ihre Interessen liegen, welche Fragen und Verständigungsbedarf sie haben. All das kann nicht mehr so aufgegriffen werden, wie es aus meiner Sicht im Sinne der Autonomie freier Träger notwendig wäre.
Die Träger müssen schauen, wofür Geld zur Verfügung gestellt wird und wo sie eine Schnittmenge mit dem finden, was sie gerne machen möchten. Nicht für alle Themen werden gleichermaßen Mittel ausgeschüttet. Es ist eine zunehmende Tendenz, dass staatliche Instanzen sagen, für diese Themen geben wir Geld und ihr bekommt das Geld nur, wenn ihr die Themen bedient, die wir gesetzt haben.
Profession-Politischebildung: Und damit meinen Sie mehr als ein Auseinanderfallen zwischen Antragssprache und Implementierungssprache, also dem Unterschied zwischen Konzept und lebbarer Praxis?
Bürgin: Es gibt den Begriff der Antragslyrik. Die Organisationen, die von Projektmitteln abhängig sind, lernen ihre Vorhaben so zu beschreiben, dass sie förderfähig sind. Ob das im Sinne der Erfinder*innen ist, ist eine andere Frage. Auch ist es für die Träger, für die Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden riskant. Es schadet der Integrität der Arbeit, wenn man in einer anderen Sprache sprechen muss, als es den eigentlichen Inhalten entspricht.
Der Staat kann und muss kontrollieren, ob freie Träger staatliche Mittel auf gesetzlicher Grundlage verwenden. Der Kinder- und Jugendplan (KJP) des Bundes und die Landesgesetze zur Förderung von Jugend- und Erwachsenenbildung setzen aber keine Themen. Dies obliegt den Trägern in einer pluralen Trägerlandschaft. Diese Autonomie wird formal nicht beschnitten, aber finanziell beschränkt. Und längst nicht zu allen relevanten Themen gibt es Förderprogramme, siehe beispielsweise zur Wachstums- und Klimakrise. Die neue Autonomie der Träger besteht darin, sich auf ein thematisch vorgegebenes Förderprogramm zu bewerben oder eben nicht. Die Inhalte vieler Förderprogramme sind nicht falsch, zumal sie häufig erst durch Druck aus der Zivilgesellschaft zustande kommen. Aber sie begrenzen, welche Themen freie Träger setzen können und sie bestimmen, wie sie mit Themen umzugehen haben. Im Fall von Demokratie leben! geht dies mitunter so weit, dass Ministerien von Trägern erwarten, bestimmte Veranstaltungen auszurichten.
Fehlende Erfahrung der Selbstwirksamkeit
Profession-Politischebildung: Unter dem Begriff der Politischen Deprivation verweisen Sie darauf, dass 70% der in Deutschland repräsentativ befragten Personen der Aussage zustimmen, dass „Leute wie ich sowieso keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung tut“. 58,2% stimmen sogar der Aussage zu, dass sie es für „sinnlos halten, mich politisch zu engagieren“. Die Zahlen der Nicht-Teilnahme und Nicht- Berücksichtigung sind also bedenklich. Würden Sie sagen, dass die fehlende Selbstwirksamkeit ein Symptom einer fehlgeleiteten Förderlandschaft ist, die Sie soeben beschrieben haben?
Bürgin: So weit würde ich nicht gehen. Dafür ist die Förderpolitik wahrscheinlich nicht wichtig genug, vor allem im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Prozessen. Wenn 70% der Befragten angeben, dass Leute wie sie sowieso keinen Einfluss darauf haben was die Regierung tut, zeigt das aus meiner Sicht, dass es den zitierten demokratischen Konsens nicht gibt, bzw. dass es ihn nur gibt, wenn man den Begriff der Demokratie komplett aushöhlt.
70% der Menschen in Deutschland sehen sich nicht als Teil des Gemeinwesens, das gemeinsam Entscheidungen trifft. Das ist eine schwache Demokratie, die mitunter auch als Post-Demokratie bezeichnet wird. Ihre Schwäche wird befeuert durch alle Prozesse, in dem Menschen abermals nicht die Möglichkeit haben, auf allgemeine und bindende Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die Programmierung freier Träger, die sich über den gesetzlich und somit demokratisch verankerten Grundsatz der Subsidiarität hinwegsetzt, reproduziert die Logik.
"Der Ausschluss der einfachen Menschen, der Anteillosen, wird durch denjenigen Teil des Bürgertums, der hier mehr Demokratie proklamiert, überhaupt nicht reflektiert."
Prof.in Julika Bürgin
Mit anderen Demokratietheoretiker*innen bezweifle ich, dass die Eliten, die die Entscheidungen in der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen, tatsächlich eine gleichberechtigte Mitbestimmung aller Menschen wollen. Die Abwehr der „Pöbeldemokratie“ hat eine lange Geschichte. Aktuell wird in Frankfurt am Main überlegt, neben der Paulskirche, also dem Ort, an dem das erste demokratische Parlament tagte, ein Haus der Demokratie zu eröffnen. In die Diskussion bringen sich auch überregionale Wissenschaftler*innen ein und meinen, das Haus der Demokratie wäre eine großartige Sache, um bürgerliches Engagement und Bürger*innendialog zu verankern. Wenn wir aber genauer überlegen, wer an diesem Dialog der Bürger*innen beteiligt wäre, dann ahnen wir, dass die 70% nicht auf den Podien im Haus der Demokratie sitzen werden. Der Ausschluss der einfachen Menschen, der Anteillosen, wie Rancière sagt, wird durch denjenigen Teil des Bürgertums, der hier mehr Demokratie proklamiert, überhaupt nicht reflektiert. Sie reproduzieren stattdessen ein Ausschlusssystem, in dem Demokratie am Ende die Sache der gebildeten Bürger*innen ist, die ihre Interessen durchsetzen.
Utopiefähigkeit!
Bürgin: Das ist ein sehr wichtiges Thema, welches gleichzeitig eine Untiefe aufmacht. Der Begriff der Utopie fragt nach dem, was keinen Ort hat. Die Utopie ist auch die Negation. Utopie und Kritik sind für mich die zentralen Begriffe politischer Bildung. Ich betrachte sie als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ich kann die Dinge nämlich nur wahrnehmen, wie sie sind, wenn ich sie mir auch anders vorstellen kann. Das heißt, ich brauche die Utopie als Vermögen, die Dinge als das zu sehen was sie sind. Das ist, was die kritische Theorie lehrt. Deshalb ist die Kritik keineswegs etwas Pessimistisches. Gerade die Kritik eröffnet uns die Möglichkeit, die Dinge anders zu denken als sie sind.
Der Philosoph Ernst Bloch betonte die Bedeutung konkreter Utopien, die unser Handeln im Hier und Jetzt anleiten können. Dramatisch ist, dass es für die großen gesellschaftlichen Probleme keine konkreten Utopien gibt, schon gar nicht im globalen Maßstab. Bei dem Thema Klimakrise reden wir eher über Dystopien als über Utopien. Teile der Welt werden in Zukunft nicht mehr bewohnbar sein. Wir sind heute vermutlich an dem Punkt angekommen, wo wir die sogenannten Kipppunkte überschritten haben. Das heißt, wir können gegen die Erderwärmung möglicherweise gar nichts mehr tun. Ein Essay von Jonathan Franzen trägt den Titel „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können“. Wir stehen vor Entwicklungen, die ich mir nicht vorstellen kann. Wie können wir den Verhältnissen ins Auge blicken, ohne dabei vor Ohnmacht zu resignieren? Franzen plädiert dafür, dass wir unsere tatsächlichen Einflussmöglichkeiten nutzen sollten. Uns politisch zu bilden bedeutet, unsere menschliche Vernunft einsetzen, um zu verstehen was passiert und unsere Emotionalität einzusetzen, um zu handeln, auch Politik zu machen.
Profession-Politischebildung: Selbstwirksamkeit bedeutet somit auch die Kompetenz der Veränderungsfähigkeit. Ein ernstgemeintes Ziel der politischen Bildung bedeutet somit Hoffnung zu ermöglichen, in Zeiten, in den die Zukunftsaussichten finster aussehen. Eine Zukunft, zu der wir uns aktiv engagieren und darin positionieren können.
Prof.in Dr.in Julika Bürgin
Prof.in Julika Bürgin ist Politologin und Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2015 lehrt sie an der Hochschule Darmstadt im Fachbereich Soziale Arbeit. Zuvor war sie lange in der gewerkschaftlichen und gesellschaftspolitischen Erwachsenenbildung aktiv. Ihre thematischen Schwerpunkte sind emanzipatorische und politische Bildung, subjektwissenschaftliche Forschung und Demokratiepolitik.
Das Gespräch führte David Stein für http://www.profession-politischebildung.de