WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Zur Mensch-Tier-Beziehung in der Politischen Bildung

Eigentlich leben wir heute im Holozän, dem Erdzeitalter, das mit dem Ende der letzten großen Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren seinen Ausgang nahm. Doch seit geraumer Zeit ist in Wissenschaft und Öffentlichkeit die Rede vom Anthropozän als der vom Menschen bestimmten gegenwärtigen Epoche. Mit der Begriffsschöpfung soll der gravierende Einfluss des Menschen auf die Umwelt zum Ausdruck gebracht werden, der sich nicht zuletzt in der Versauerung der Meere, im Artensterben und Klimawandel äußert. Doch wie spiegelt sich diese Erkenntnis in der Politischen Bildung wider?

Der Aktualitätsbezug

Der negative Einfluss der menschlichen Wirtschafts- und Lebensweise auf das Ökosystem wird bereits seit dem 19. Jahrhundert von Umwelt- und Naturschutzverbänden thematisiert und bekämpft. Gegenwärtig engagieren sich neben den klassischen Umwelt- und Naturschutzbewegungen insbesondere von jungen Menschen getragene Gruppen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen weltweit gegen den Raubbau an der Natur. 

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Für sie bildet der anthropogene Klimawandel die existentielle Herausforderung schlechthin, deren Lösung keinen Aufschub duldet: So demonstrieren Schüler*innen von Fridays for Future mit Plakaten, auf denen »Die Uhr tickt« zu lesen ist. Das Emblem von Extinction Rebellion ist eine Sanduhr, die das tägliche Aussterben von Tier- und Pflanzenarten symbolisiert. Für beide Bewegungen stellt der Umgang des Menschen mit Tieren, insbesondere die Massentierhaltung, ein fundamentales Problem dar, das dem Klimawandel Vorschub leistet.

Entfremdung

Die Praxis der agrarindustriellen Massentierhaltung verweist auf die grundsätzliche Entfremdung des Menschen von seiner eigenen tierlichen Herkunft. Dabei begleiten Tiere den Menschen seit undenklichen Zeiten und prägen unsere Kultur- und Lebensräume – als Tiergötter, Nahrungsmittel, Arbeitstiere, Rohstofflieferanten und Heimtiere. Weitaus die längste Zeit seiner Stammesgeschichte verbrachte der Mensch umherschweifend mit Sammeln und Jagen. Nach der letzten Eiszeit begann unsere Spezies jedoch sesshaft zu werden und die bislang ungezähmte Natur einem rational kalkulierten Handeln zu unterwerfen. Homo sapiens suchte zusehends, Flora und Fauna nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Die Herrschaft über die Natur begründeten die Vertreter*innen unserer Spezies mit ihrer jeweiligen Religion, Weltanschauung und Philosophie. Dabei wird dem Menschen stets der herausgehobene Platz über den Tieren zugewiesen und moralisch gerechtfertigt. Exemplarisch sei an die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte erinnert, wo es in Genesis 1,28 heißt:

„Seid fruchtbar und mehret euch und fülltet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“

Zwar gibt es „eine Sonderstellung des Menschen in der Natur […] aus biologischer Sicht nicht“1. Gleichwohl ist unser Denken von der scheinbar unüberbrückbaren Differenz von Mensch und Tier geprägt: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde.“2

"Die vorsätzliche Blindheit gegenüber dem Umgang mit Tieren allgemein wie deren Leiden in maschinellen Zuchtbetrieben, Schlachthöfen und Versuchslaboren im Besonderen inzwischen vielfach hinterfragt – von sozialen Bewegungen, Tierschutz- und Tierrechtsgruppen, von Verbraucher*innen und nicht zuletzt von der Wissenschaft."

Der Mensch hat sich entfremdet von seinem eigenen Herkommen wie vom Kreislauf der Natur. Die unbedingte Höherstellung des Menschen zeitigt bis heute fatale Folgen für alle anderen Tiere: Der anthropozentrische Blick auf die Fauna ermöglicht eine moralische Differenzierung zwischen Mensch und Tier, die es unserer Spezies erlaubt, Tiere in jedweder Form zu unterwerfen, zu zähmen, zu fesseln, zu opfern, zu essen, zu foltern, zu quälen, auszustellen, lebendig und unbetäubt für Versuche zu nutzen – die Liste ließe sich fortsetzen. Doch wird diese vorsätzliche Blindheit gegenüber dem Umgang mit Tieren allgemein wie deren Leiden in maschinellen Zuchtbetrieben, Schlachthöfen und Versuchslaboren im Besonderen inzwischen vielfach hinterfragt – von sozialen Bewegungen, Tierschutz- und Tierrechtsgruppen, von Verbraucher*innen und nicht zuletzt von der Wissenschaft. Hier fand seit Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Disziplinen eine verstärkte Reflektion und Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung statt, die als animal turn bezeichnet wird3. So beschäftigen sich auch die vornehmlichen Bezugswissenschaften der politischen Bildung – Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Rechtswissenschaft – intensiv mit Tieren als individuelle Handlungssubjekte. Damit geht auch die Frage von Tierrechten einher, was nicht zuletzt für die politische Bildung von Relevanz ist: „Der menschenrechtliche Minimalkonsens ist heute wenigstens formal breit akzeptiert und auch ins geltende Völkerrecht eingeflossen. Die Forderung nach Tierrechten kommt dagegen vielen Menschen immer noch abwegig vor. Streng genommen sind die Menschenrechte indes selbst Tierrechte. Wir Menschen gehören schließlich auch zum Tierreich: Stamm Chordatiere, Unterstamm Wirbel- oder Schädeltiere, Reihe Landwirbeltiere, Klasse Säugetiere, Unterklasse höhere Säugetiere, Ordnung Primaten, Unterordnung Trockennasenaffen, Familie Menschenaffen. Wir sind Produkte derselben Naturgeschichte, die auch Schwämme, Ringelwürmer, Amphibien, Fische, Vögel und Säugetiere, bis hin zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, hervorgebracht hat.4

Tiere in der politischen Bildung

Tiere kommen im Politikunterricht nicht vor. Zumindest finden sie in den maßgeblichen Lehrplänen keine Erwähnung: Während sich Grundschülerinnen und -schüler im Rahmen des Heimat- und Sachunterrichts noch mit Tieren in ihren unterschiedlichen Lebensräumen beschäftigen, werden sie in der Sekundarstufe I und in der gymnasialen Oberstufe curricular nur noch in den Fächern Biologie sowie in Ethik bzw. in Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde thematisiert. In der politischen Bildung sind Tiere ein blinder Fleck.

Setzt man sich allerdings mit den inhaltlichen Vorgaben des Unterrichtsfaches auseinander, so wird schnell deutlich, dass Tiere als Lerngegenstand durchaus im Lehrplan enthalten sind, wenn auch nicht explizit. Im Folgenden sollen einzelne Themenfelder beispielhaft angeführt werden, die mit dem Mensch-Tier-Verhältnis implizit verbunden sind:

  • Zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, Greenpeace, Bund für Umwelt und Naturschutz, Deutscher Tierschutzbund, Menschen für Tierrechte etc. engagieren sich für tierliche Belange, was im Rahmen der Themenfelder »Formen der Bürgerbeteiligung« und »politische Partizipation« zu behandeln wäre.
  • Die Themen »globale Risiken und Nachhaltigkeit«, »Umwelt- und Klimaschutz« können schlechterdings nicht ohne die Berücksichtigung von Tieren – etwa im Hinblick auf die Rodungen tropischer Urwälder für den Anbau von Tierfutter, die Stickstoffbelastung heimischer Böden durch Gülle und Mist etc. – erarbeitet werden.
  • Im Hinblick auf die Inhaltsfelder »Europa und Europäische Integration« wäre die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zu thematisieren, die mit knapp 40 % über den weitaus größten EU-Haushaltsposten verfügt. Untersuchen ließen sich etwa die Verteilmechanismen der Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe – pauschal pro Hektar vs. ökologische und tiergerechte Kriterien.
  • Beim Lerngegenstand »Europa in der Welt« könnte eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit dem subventionierten Billigfleisch durchgeführt werden, das in Europa in agrarindustriellen Betrieben hergestellt und nach Afrika exportiert wird, wo es etwa in Ghana die heimischen Märkte für Geflügel zerstört, da das europäische Fleisch konkurrenzlos billig ist.
  • Die unterrichtlichen Themenfelder »Interessenverbände« und »Europäische Integration« könnten am Beispiel der Lobbyarbeit des Deutschen Bauernverbands (DBV) erarbeitet werden: Die Verflechtungen des DBV und seiner Landesverbände reichen von der Versicherungs- und Kreditwirtschaft über den Agrarhandel und der Agrochemie bis zur politischen Ebene in den Agrarausschüssen des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments.
  • In den Themenbereichen »Recht und Grundgesetz« kann der Tierschutz als Staatszielbestimmung behandelt werden. In diesem Kontext wären auch das Tierschutzgesetz sowie die gesellschaftlich kontrovers diskutierte Frage zu erörtern, ob Tieren – wie Menschen – Rechte zukommen.
  • Im Kontext von Themen wie »Demokratie«, »Gerechtigkeit«, »Repräsentation« wäre zu untersuchen, ob Nutztieren eine „Tierbürgerschaft“ zukommen sollte: „Politische Tierbürgerschaft hieße, ihre Perspektive und ihre Interessen in demokratischen Entscheidungsverfahren fest zu installieren. Zur Realisierung dieser Idee gibt es verschiedene Ansätze, die meist auf parlamentarische Repräsentation zielen und Ombudspersonen, Verbände oder Parteien mit Mitwirkungs- oder Vetorechten in der Gesetzgebung ausstatten.“5

Fazit

Vor dem Hintergrund der hier exemplarisch skizzierten Themenfelder des Politikunterrichts, bei denen Tiere implizit enthalten sind, wäre für die künftige Gestaltung von Curricula die Anregung zu formulieren, diese doch auch ausdrücklich zu benennen. Mit der Behandlung von tierlichen Themen in der politischen Bildung könnte dem anthropozentrischen Denken begegnet und ein Verständnis vom „politischen Verhältnis“6 von Mensch und Tier entwickelt werden.

Dies ist umso notwendiger, als sich an den verheerenden Zuständen bei der Behandlung von Tieren seit Max Horkheimers Beschreibung des „Gesellschaftsbaus“ als Wolkenkratzer vor fast einhundert Jahren wenig geändert hat. Dort heißt es vom Fundament des gesamten Gesellschaftssystems:

[Es] wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere. […] Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.7

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Prof. Dr. Ingo Juchler

Prof. Dr. Ingo Juchler ist seit 2010 Professor für Politische Bildung an der Universität Potsdam und beschäftigt sich mit den demokratischen Aufbrüchen in Deutschland. Er blickt dabei u.a. auf die Geschehnisse rund um das Jahr 1968, die friedliche Revolution 1989 und die heutige Fridays for Future-Bewegung.

Jäger, Cornelie (2019): Das Tier und der Nutzen. Wie landwirtschaftliche Tierhaltung endlich allen gerecht wird, Bonn. []

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main. []

Kompatscher, Gabriela/Spannring, Reingard/Schachinger, Karin (2017): Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende, Münster/New York. []

Ladwig, Bernd (2020): Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin. []

5, 6  Niesen, Peter (2019): Menschen und Tiere – ein politisches Verhältnis, in: Elke Diehl/Jens Tuider (Hrsg.): Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung, Bonn, S. 379-383. [] []

7 Horkheimer, Max (1987): Der Wolkenkratzer, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Band 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932. Frankfurt am Main, S. 379-380. []

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