WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Bitte sachlich bleiben! Über Emotionen in der Politischen Bildung

In der deutschen politischen Bildung steht aus historisch guten Gründen die sachlich nüchterne und auf Rationalität gerichtete Auseinandersetzung mit Politik im Mittelpunkt. Mit Emotionen tun wir uns in diesem Zusammenhang schwer – aber kann man Politik erfassen ohne Emotionen ernst zu nehmen? Und: Wie sähe eine politische Bildung aus, die Emotionen ernsthaft adressiert? Prof.in Anja Besand erläutert.

Einleitung

Beim Blick in die Geschichte der politischen Bildung wird sichtbar, dass sich der Bildungsbereich mit Emotionen von Beginn an eher schwer getan hat. Vor dem Hintergrund des beispiellosen Zivilisationsbruchs des Nationalsozialismus, der nicht zuletzt auch als Instrumentalisierung und Manipulation von Ängsten, Leidenschaften und tiefsitzenden Ressentiments beschrieben werden kann, ist es nur zu verständlich, dass sich die deutsche politische Bildung von Beginn an einer rationalen und nüchternen Auseinandersetzung mit politischen Fragen zu orientieren suchte1.

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Es ist allerdings interessant sich in diesem Zusammenhang zu vergegenwärtigen, dass bereits die ersten Versuche einer Umerziehung der deutschen Bevölkerung und Jugend, die durch die Alliierten unter der Überschrift Re-Education unternommen wurden, von der Überzeugung getragen waren, dass es nicht ausreichend sei, bloße Informationen über das, was im Nationalsozialismus geschehen war zu vermitteln, sondern dass vielmehr „Geist und Instinkt“ der Bevölkerung in einem komplexen Sinne umzuformen seien2.

Ähnlich argumentiert auch Adorno, dem es im Rahmen seiner politischen Pädagogik darum ging, die Menschen „überhaupt erst für die Wahrnehmung dieses sinnlosen Grauens empfindlich zu machen, um sie sodann ganz ohne Trost mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit gleichsam alleine zu lassen“3. Von einer rein rationalen Auseinandersetzung mit politischen Fragen kann in einem solchen Kontext keine Rede sein. Vielmehr ging es um eine Erziehung der Gefühle oder mit anderen Worten: Um eine Erziehung zur Scham oder zum Schamgefühl gegenüber dem, was im Nationalsozialismus geschehen war.

"Emotionen spielen im Prozess politischer Bildung auch in Deutschland eigentlich von Beginn an eine zentrale Rolle. Allerdings geht es zumeist um ihre Beherrschung, ihre Kanalisierung oder die Entwicklung ganz spezifischer Gefühle."

Man könnte also sagen: Emotionen spielen im Prozess politischer Bildung auch in Deutschland eigentlich von Beginn an eine zentrale Rolle. Allerdings geht es zumeist um ihre Beherrschung, ihre Kanalisierung oder die Entwicklung ganz spezifischer Gefühle. Zum Beispiel sollen sich die Adressat*innen der politischen Bildung gegenüber politischen Fragen, Verfahren oder Personen nicht verdrossen zeigen. Sie sollen sich wissensdurstig politischen Fragen zuwenden, eine hohe Bereitschaft zur Partizipation entwickeln, sowie gegen Ungerechtigkeit jeglicher Coleur engagieren. Dagegen ist tatsächlich nichts einzuwenden. Der Schwachpunkt der Debatte wird erst sichtbar, wenn wir uns der Frage zuwenden, welche Vorstellungen in der politischen Bildung darüber bestanden (und auch weiterhin bestehen), wie sich diese Aufgeschlossenheit – um nicht zu sagen Begeisterung – gegenüber Politik und politischer Bildung inspirieren lässt. Auf der Suche nach Antworten stößt man nämlich schnell auf folgendes Konzept:

Begeisterung für Politik durch Wissensvermittlung?

Politikverdrossenheit, so ist z.B. bei Massing, Deichmann oder auch Patzelt4 zu lesen, entsteht durch Unwissenheit. Weil die Menschen die Kompliziertheit demokratischer Verfahren nicht verstehen, reagieren sie empört oder verdrossen. Hätten sie angemessene Vorstellung über politische Institutionen oder Verfahren entwickelt, würden sie diese auch mehr wertschätzen. Engagement/Interesse/Wertschätzung – so wird hier sichtbar – all das lässt sich durch die Vermittlung politischen Wissen stimulieren. Eine Begeisterung für Grundrechte ergibt sich durch ein gründliches Studium des Grundgesetzes. Aus dem Duktus meiner Darstellung hören Sie heraus, dass ich den Zusammenhang anders sehe. Wichtig ist aber gleichwohl an dieser Stelle festzuhalten, dass ein nicht unerheblicher Teil der Angebote politischer Bildung auf dieser Grundvorstellung aufbaut.

"Wie wir Angst zeigen und vor was wir Angst haben, kann zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gruppen aber etwas sehr unterschiedliches sein. So haben sich die (zeitweise) als „besorgte Bürger“ bezeichneten Gruppen, die angesichts der Aufnahme von geflüchteten Menschen noch erhebliche Ängste vor der Einschleppung von Krankheiten gezeigt haben, im Rahmen der Coronavirus Pandemie letztendlich Infektionsängsten gegenüber als recht robust erwiesen."

Ich glaube, der Zusammenhang ist komplizierter und er kann nicht angemessen beschrieben werden, ohne Emotionen selbst in den Blick zu nehmen. Aber wie stellt sich der Zusammenhang dar, wenn wir Emotionstheorien in diesem Kontext berücksichtigen? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was Emotionen eigentlich sind. Hier lassen sich im Wesentlichen zwei Denktraditionen unterscheiden. Eine dieser Traditionslinien ist eher naturwissenschaftlich geprägt, eine andere eher sozial- und kulturwissenschaftlich. Aus der naturwissenschaftlichen Perspektive wird betont, dass die Fähigkeit Emotionen zu empfinden den Menschen evolutionär bestimmt und damit angeboren ist. Das Vorhandensein bestimmter Emotionen (z.B. Angst) wird körperlich empfunden und kann mit naturwissenschaftlichen Verfahren (z.B. Hautwiderstand) auch nachgewiesen werden. Emotionen kommen aus dieser Perspektive reflexhaft zustande und helfen dem Menschen zu überleben. Weniger in den Blick geraten aus dieser Perspektive die Unterschiede, die sich zwischen unterschiedlichen emotionsgenerierenden Situationen ergeben. So lässt sich aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive beispielsweise die Angst des Säuglings, von der Mutter verlassen zu werden und die Angst des gläubigen Christen vor der Hölle oder des Torwarts vorm Elfmeter nicht wirklich unterscheiden5.

Aus einer sozial- oder kulturwissenschaftlichen Perspektive wird dem gegenüber betont, dass Emotionen historisch bestimmt und kulturell geprägt werden. Wie wir Angst zeigen und vor was wir Angst haben, kann zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gruppen aber etwas sehr unterschiedliches sein. So haben sich die (zeitweise) als „besorgte Bürger“ bezeichneten Gruppen, die angesichts der Aufnahme von geflüchteten Menschen noch erhebliche Ängste vor der Einschleppung von Krankheiten gezeigt haben, im Rahmen der Coronavirus Pandemie letztendlich Infektionsängsten gegenüber als recht robust erwiesen. Aus diesem Beispiel sollte sichtbar werden: Wenn wir im Rahmen von politischer Bildung über Emotionen nachdenken, kann eine naturwissenschaftliche Perspektive zwar durchaus erhellend sein – eine sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive ist aber bei weitem aufschlussreicher.

Ein Emotionsbegriff für die Politische Bildung

Annette Petri hat als eine der ersten einen komplexen Emotionsbegriff vorgelegt, der für die politische Bildung sinnvoll ist. Sie sagt:

Emotionen vermitteln auf der Basis von Urteilen und Bewertungen ein orientierungsstiftendes sowie handlungsvermittelndes Wissen über das Selbst und die Welt. Das besondere Zusammenwirken von Kognition und Leiblichkeit führt dabei dazu, dass Emotionen nicht nur Wissen, sondern häufig sogar Gewissheit über das Selbst und seine Beziehung zur Welt vermitteln6.

Emotionen aus dem Bereich politischer Bildung heraushalten zu wollen, ist nach dieser Begriffsbestimmung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn mit Blick auf Petri ist die Zu- oder Abwendung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen von jeher (und zwar im Guten wie im Schlechten) mit Emotionen verbunden. Politikverdrossenheit ist aus dieser Perspektive nicht Folge mangelnder Wissensbestände. Fehlendes Wissen ist vielmehr Produkt politischer Verdrossenheit. Gleichzeitig stellen die von Petri als „Gewissheiten über das Selbst und die Welt“ beschriebenen Haltungen für die politische Bildung allerdings eine nicht unerhebliche Herausforderung dar. Denn nichts ist sicherer als dass nichts sicher ist.

"Politikverdrossenheit ist nicht Folge mangelnder Wissensbestände. Fehlendes Wissen ist vielmehr Produkt politischer Verdrossenheit."

 Die politische Bildung muss deshalb nach Mitteln und Wegen suchen, um solche Gewissheiten diskursiv wieder besprech- und damit reflektierbarer zu machen. Politik ist kein rein rationaler Akt, sondern ist verbunden mit emotionalen Komponenten. Empathie, Engagement und Begeisterung, aber auch Verärgerung, Wut und Enttäuschung sind Bestandteile des Politischen und werden auch sinnlich und körperlich verarbeitet (vgl. Besand 2019). Deshalb kann politische Bildung auch nicht ausschließlich auf die kognitive politische Analyse- und Urteilsfähigkeit abzielen. Sie muss in die Milieus eingebettet sein, in denen Politik erlebt und erfahren, Konflikte ausgehandelt und Krisen durchgestanden werden.

Eine emotionssensible Politische Bildung – das geht gerade erst los

Tatsächlich ist eine differenzierte und reflektierte Diskussion über die emotionale Fundierung politischer Bildung über lange Zeit nicht in Gang gekommen. Die Arbeit von Anette Petri bildet einen Ausgangspunkt. Helmut Bremer konnte zeigen, welche Bedeutung Emotionen für eine ungleichheitssensible politische Bildung hat. Rico Behrens und Stefan Breuer konnten zeigen, dass Emotionen in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Phänomenen der extremen Rechten eine wichtige Rolle spielen – und das nicht nur auf der Seite der Lernenden, sondern auch der Lehrenden.  In der Zwischenzeit liegen auch einige Beiträge vor, die sich mit bestimmten Emotionen und ihrem Potenzial für die politische Bildung beschäftigen: Jonas Hänel hat sich in diesem Sinn mit Scham beschäftigt, Andreas Eis mit Wut und ich selbst habe Hoffnung bzw. Hoffnungslosigkeit in den Blick genommen. Viele dieser Beiträge sind versammelt in dem Band „Politische Bildung mit Gefühl“, der für den Einstieg in die Themenstellen sehr zu empfehlen ist. Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass politische Bildung ohne eine angemessene Reflexion der emotionalen Dimension heute nicht angemessen geleistet werden kann.

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Prof.in Dr.in Anja Besand

Prof.in Dr.in Anja Besand ist Inhaberin der Professur für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden und Direktorin der John-Dewey Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie. Sie forscht und lehrt zu Fragen der schulischen wie außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenbildung und engagiert sich in vielfältigen politischen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen.

Besand, Anja (2019): Politische Bildung und Emotionale Pathologien – Oder warum alle über Emotionen reden und keiner sie versteht, in: Frech, Siefried/Richter, Dagmar (Hrsg.): Gefühle, Stimmungen, Affekte – Emotionen im Politikunterricht, Schwalbach 2019 S. 81-97. []

2, 3 Heins, V. (2010): Die Erziehung der Gefühle in Deutschland, in: Brunner, J. (Hrsg.), Politische Leidenschaften. Zur Verknüpfung von Macht, Emotion und Vernunft in Deutschland, Tel Aviv, 115-130. [] []

4 Vgl. z.B. Politische Bildung mit Gefühl (Hsg. Besand, Anja / Overwien, Bernd / Zorn, Peter), Bonn, 2019. []

5, 6 Petri, Annette (2018) Emotionssensibler Politikunterricht, Schwalbach. [] []

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