WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Subjektorientierung und Lebensweltbezug Als Kern Politischer Bildung

Der Beutelsbacher Konsens, der drei grundlegende Prinzipien für die politische Bildung formuliert, ist seit den 1970er Jahren eine zentrale Referenz für politische Bildner*innen. Diese drei Prinzipien sind das Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot und das Ziel, Schüler*innen bzw. Lernende im Allgemeinen dazu zu befähigen, politische Situationen im Lichte ihrer Interessen zu analysieren und zu beurteilen. Hier soll ein Überblick über die Entstehungsgeschichte, die Inhalte und die Kontroverse über den Beutelsbacher Konsens gegeben werden. Dabei wird deutlich werden, dass der Beutelsbacher Konsens zwar wichtige Orientierungen für die politische Bildung formuliert, aber weder konkrete Handlungsempfehlungen bietet – was die drei Prinzipien für die politische Bildungspraxis bedeuten, bedarf der Interpretation und ist umstritten – noch die Debatte über Orientierungen für die politische Bildung zu einem Abschluss gebracht hat.

Die 6 Kernelemente

Die Profession der außerschulischen politischen Bildung hat kein so klar umrissenes Professionsverständnis, wie die der schulischen politischen Bildung, was v.a. an der Pluralität der (Träger)Landschaft und der weitestgehend fehlenden universitären Verankerung liegt. Es lassen sich jedoch Elemente der Profession herausarbeiten, die zentral sind und die helfen können, einen Kern der Profession zur Orientierung zu finden. Dies sind u.a.:

→ Inhalt

  • Freiwilligkeit und Ermöglichung von Partizipation der Teilnehmenden bei der Gestaltung des Bildungsprozesses,
  • Offenheit der Themenwahl, d.h. subjekt- und lebensweltorientierte Gestaltung der Bildungspraxis,
  • Offenheit der Formate und Handlungsformen, sodass auch politisches Handeln möglich wird,
  • außerschulische politische Bildung als Freiraum für ‚Neues‘, d.h. u.a. neue Themen, Sozial- und Handlungsformen, politische und gesellschaftliche Erfahrungen,
  • ‚flache‘ Hierarchien/Autoritäten, außerschulische Bildner*innen als „interessante Erwachsene“ mit eigenen Standpunkten,
  • pädagogisches „Vertrauen“ und „Zutrauen“ bezüglich der Fähigkeiten der Teilnehmenden.

Insgesamt zeigt sich, dass eine prinzipielle Offenheit, Subjektorientierung, die Charakterisierung außerschulischer politischer Bildung als Freiraum und das Ziel der Ermöglichung neuer Erfahrungen starke Ankerpunkte eines Professionsverständnisses außerschulischer politischer Jugend- und Erwachsenenbildung sind.

Rückzug auf den Beutelsbacher Konsens?

In der außerschulischen politischen Bildung ist zu beobachten, dass auf der Suche nach Orientierung in Bezug auf die Definition von ‚Qualitätsstandards‘ für außerschulische politische Bildung immer öfter auf den Beutelsbacher Konsens genommen wird, der in den 70er Jahren für die schulische Politikdidaktik entwickelt wurde. Dabei gelten vor allem die darin beschriebenen Prinzipien des Überwältigungsverbots und des Kontroversitätsgebots als Maßstab für ‚gute‘ politische Bildung, so zum Beispiel für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)1. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden, allerdings droht die Gefahr einer Fixierung auf Kontroversität und falsch verstandene Zurückhaltung durch eine Angst vor Überwältigung. Gerade für außerschulische politische Bildung, die als Raum für Neues und für Innovation für die gesamte Profession gilt2, ist ein solcher Bezug zu eng. Ich möchte im Folgenden betonen, dass eine Fokussierung der außerschulischen politische Bildung auf den Aspekt der Subjektorientierung für die Profession gewinnbringender ist3 als die Frage, wie Kontroversität am Besten in Bildungspraxis überführt und dabei Überwältigung vermieden werden kann.
Beutelsbacher Konsens
Du willst wissen, was eigentlich der Beutelsbacher Konsens ist? Unsere Autorin Dr.in Manon Westphal führt in die Hintergründe und didaktischen Implikationen des Konsenses ein.
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Orientierung an der Lebenswelt

Ein wie hier beschriebener Fokus geht davon aus, dass politische Bildung seinen Ausgangspunkt nimmt in der Orientierung an den Lebenswelten, den Interessen und Vorstellungen sowie (Vor)Urteilen der Bildungssubjekte selbst. Die Lebenswelten der Teilnehmenden und hier Handeln darin wird ernst genommen und auch als politisch relevant betrachtet. Ihnen wird gesellschaftliche und politische Relevanz sowie politisches Interesse anerkannt. Genau hier liegt das Potenzial des außerschulischen Bildungsraumes, dem kein ministerial festgeschriebenes Curriculum zu Grunde liegt, in dem keine Wissensüberprüfung, Benotung und Selektion stattfinden muss, in dem neue Sozial- und Handlungsformen ausprobiert und erprobt werden können. Diese Offenheit ermöglicht eine radikale Subjektorientierung: In allen Phasen des Bildungsprozesses, bei der Auswahl eines Gegenstandes, bei der Wahl von Methoden und Bearbeitungsformen, bei der Entscheidung über Zeitbudgets zur Bearbeitung usw., können die Bildungssubjekte entscheiden (und nicht nur bestenfalls mitentscheiden). Dabei muss nicht die kontroverse Auseinandersetzung mit einem politischen, gesellschaftlichen und/oder ökonomischen Gegenstand im Mittelpunkt stehen. Ausgangspunkt der Beschäftigung mit einem Gegenstand kann auch das Bedürfnis nach Veränderung und Engagement in einem konkreten Feld sein, das die Bildungssubjekte, bspw. mit Bezug zu ihrer Lebenswelt und ihrem präferierten Sozialraum, artikulieren.

Von Position zur Partizipation

Es ist selbstredend sinnvoll, in der Phase der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem gewählten Gegenstand auch andere Positionen, Interessen, Begründungen, Standpunkte usw. kennenzulernen, um sich an ihnen zu reiben, den eigenen Standpunkt auszudifferenzieren oder zu stärken, Gegenargumente zu finden, eigene Handlungsoptionen zu eruieren usw. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung kann jedoch auch die Frage stehen, wie der eigene Standpunkt in einer politischen Debatte, in der Öffentlichkeit, in einer Institution usw. adäquat artikuliert werden kann. Außerschulische politische Bildung kann somit politische Partizipationserfahrungen von jungen Menschen pädagogisch und fachdidaktisch begleiten. Die reale Erfahrung mit politischer Partizipation in außerschulischen Bildungsseminaren wird dabei nicht als Endpunkt politischer Bildung begriffen, sondern als Anlass für Bildungsprozesse, bspw. durch die Reflexion der Erfahrungen. In gewisser Weise wird dies auch im Beutelsbacher Konsens betont, und zwar im dritten Satz, der im Diskurs weniger Erwähnung findet als Kontroversitätsgebot und Überwältigungsverbot4:

„Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein.“5.

Der Kern einer solchen politischen Bildung würde darin bestehen, anknüpfend an die Lebenswelten, die Erfahrungen, Vorstellungen und Vorurteile der Bildungssubjekte gesellschaftlich und politisch bedeutsame Themen und Gegenstände zu identifizieren, die sich für eine systematische sozialwissenschaftlich-fachdidaktisch angeleitete Auseinandersetzung eignen. Dazu bieten sich verschiedene subjektorientierte Methoden an, etwa die Sozialraum- oder Stadtteilerkundung. Politische Bildung bietet Zeit und Raum für eine strukturelle Analyse sozialer, politischer und ökonomischer Probleme und Konflikte, beispielsweise mithilfe konfliktorientierter politikdidaktischer Ansätze6. Wenn Teilnehmende fehlende Freizeitbeschäftigungen in der Kommune zum Ausgangspunkt ihres politischen Bildungsprozesses machen, so gilt es für politische Bildung, Möglichkeiten zur systematischen Analyse dieses Problems und dem ihm zugrunde liegenden Konflikt zu schaffen: Wer hat ein Interesse daran, dass die Kommune nicht in mehr Freizeitmöglichkeiten (bspw. ein Jugendzentrum) investiert? Wer hat die Macht zu entscheiden, welche Freizeitmöglichkeiten geschaffen werden? Wie sieht die rechtliche Lage aus? Was kann getan werden, um Freizeitmöglichkeiten in der Kommune zu fordern und die Forderung durchzusetzen? Wer und wo sind potentielle Bündnispartner. Außerschulischer politischer Bildung sollte somit um das Schaffen eines Raums für Teilnehmende zum Artikulieren ihrer Urteile, ihrer Interessen in den politischen Problemen und Konflikten und ihrer politischen Forderungen gehen. Sie sollte sowohl Möglichkeiten für die inhaltliche Analyse der politischen Strukturen, Probleme und Konflikte schaffen, in denen sich die Teilnehmenden engagieren wollen, als auch für politische Partizipation und die Reflexion dieser. So können subjektive Interessen und Erfahrungen sowohl der Ausgangspunkt als auch der Inhalt politischer Bildung werden.

Subjektive Interessenslagen als Ausgangspunkt partizipativer Didaktik

Das Lernverständnis der außerschulischen politischen Bildung ist also davon geprägt, dass Lernen als etwas angesehen wird, „das nicht aufgenötigt wird, sondern sich zwanglos von selbst ergibt“, was wiederum eine „didaktische und methodische Kreativität“7 voraussetzt. Die partizipative Ausrichtung der Veranstaltungen – die Orientierung an den Interessen und Bedarfen der Teilnehmenden – führt dazu, „dass die angebotenen Themen oft nur grob umrissen sind und erst im Prozess der Veranstaltung eine genauere Ausrichtung erfahren“8. Die Methoden und didaktische Aufbereitung muss daher auch eigenaktives Lernen anregen: „Die Methoden können entsprechend dazu beitragen, auch jene Jugendlichen zu erreichen und zu gewinnen, die eine Distanz oder sogar Zugangsbarriere gegenüber den Bildungsangeboten empfinden.“9 Zentral ist, dass die Teilnehmenden selbst ein Interesse an dem Gegenstand haben und durch die Beschäftigung mit ihm eine Erweiterung des eigenen Weltaufschlusses und der Weltverfügung antizipieren10.

"Mit der Orientierung an Lebenswelten, subjektiven Interessen, Bedürfnissen usw. und der Beschäftigung mit politischen Problemen und Konflikten, die diesen Lebenswelten, Interessen, Bedürfnissen entstammen, kann politische Bildung eine quasi experimentellen Charakter einnehmen."

Jun.-Prof. Alexander Wohnig

In Bezug auf den oben zitierten dritten Satz des Beutelsbacher Konsenses ist zu betonen, dass die dort angesprochenen operationalen Fähigkeiten zur Beeinflussung der politischen Lage im Sinne eigener Interessen in der politischen Bildung oftmals vernachlässigt werden. Mit der Orientierung an Lebenswelten, subjektiven Interessen, Bedürfnissen usw. und der Beschäftigung mit politischen Problemen und Konflikten, die diesen Lebenswelten, Interessen, Bedürfnissen entstammen, kann politische Bildung eine quasi experimentellen Charakter einnehmen: Was geschieht, wenn Teilnehmende ihre Interessen auch in der Öffentlichkeit artikulieren wollen, in den politischen Diskurs intervenieren und politisch partizipieren, ist nicht vorhersehbar. Die Reflexion der gemachten Erfahrungen sind daher wiederum Teil des „Experiments“ und Ausgangspunkt neuer politischer Bildungsprozesse.

Fazit: Die Stärke liegt im Interesse des Subjekts

Die Stärke der außerschulischen politischen Bildung liegt v.a. darin begründet, dass der ihr zugrunde liegende Bildungsraum andere gesellschaftliche Funktionen einnimmt als der Schulraum. Er ist nicht primärer Ort der Selektion und Anpassung. Viele Angebote werden von Teilnehmer/-innen freiwillig gewählt, aber auch in Schulkooperationen, in denen die Freiwilligkeit zum Teil außer Kraft gesetzt wird, ist zu beobachten, dass ‚das Andere‘ des außerschulischen Bildungsraums einen elementaren Einfluss auf die Bildungsprozesse und politischen Erfahrungen der Teilnehmende hat. Der Kern dieses ‚Anderen‘ ist die Rolle, die die Teilnehmenden selbst einnehmen. Ihnen wird das Recht und die Fähigkeit zugesprochen, eigene und subjektiv bedeutsame Themen zu artikulieren und zu behandeln, ihren Bildungsprozess selbst zu gestalten, politisch zu handeln usw. Der Raum selbst regt subjektorientierte Bildung an, indem er eingebettet ist in eine ‚andere‘ Umgebung, in dem ein mehrtägiges Herauslösen aus dem Alltag möglich ist. Durch das mehrtägige Zusammensein werden informelle, an den subjektiven Bedürfnissen ausgerichtete, Bildungsprozesse angestoßen und die mannigfaltigen subjektiven Fähigkeiten der Teilnehmenden können sich in unterschiedlicher Weise (Wissen, Sozialkompetenz, Kooperation in der Gruppe, Handlungsfähigkeit, Kreativität usw.) entfalten.

Jun.-Prof. Alexander Wohnig

Jun.-Prof. Alexander Wohnig

lehrt und forscht an der Universität Siegen. Zu seinen Hauptforschungsgebieten und Tätigkeitsfeldern gehören die Entwicklung einer Didaktik der politischen Bildung, Kooperationen von Schulen und außerschulischen Bildungsträgern, der Stellenwert politischer Partizipation für sozialwissenschaftliche Bildungsprozesse, die Weiterentwicklung und Stärkung der sozialwissenschaftlichen LehrerInnenbildung und das Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Bildung und Demokratiebildung.

Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2011): Beutelsbacher Konsens. https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens [21.09.2020]. []

2 Schröder, Achim (2014): Das Besondere am Lernort Jugendbildungsstätte – aktuelle Herausforderungen und Perspektiven der Politischen Jugendbildung. In: deutsche jugend 6/2016. S. 253–260. []

Scherr, Albert (2014): Gesellschaftspolitische und subjektorientierte Bildung: Ausgangsbedingungen und Perspektiven. In: Hafeneger, Benno/Widmaier, Benedikt (Hrsg.): Wohin geht die Reise? Diskurse um die Zukunft der non-formalen schulischen Bildung. Bad Schwalbach. S. 90-106. []

4 vgl. Overwien, Bernd (2016): Globales Lernen und politische Bildung – eine schwierige Beziehung? In: ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 39, 2/2016. S. 7-11. Zur Debatte um den Beutelsbacher Konsens siehe Widmaier, Benedikt / Zorn, Peter (Hrsg.) (2016): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn. []

Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart. S. 173 – 184. []

Wohnig, Alexander (2017): Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen. Eine Analyse von Praxisbeispielen politischer Bildung. Wiesbaden. []

7 Ciupke, Paul (2010): Orte der politischen Bildung. Von der Bildungsstätte zum „Lernen vor Ort“. In: Hessische Blätter für Volksbildung 4/2010. S. 315–324. []

8, 9 Balzter, Nadine/Ristau, Yan/Schröder, Achim (2014): Wie politische Bildung wirkt: Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung. Schwalbach/Ts. []

10 Holzkamp, Klaus (1995). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/Main. []

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