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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
Ab 2000: Demokratieförderung und/oder Politische Bildung – Zur Debatte über Gegenstand und Aufgaben der Politischen Bildung
Im Zuge einer sich ausdifferenzierenden Profession wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, ob der Gegenstand der politischen Bildung nicht „Politik“ und „das Politischen“, sondern vorzugsweise „Demokratie“ und „das Demokratische“ sein sollte. Diese veränderten Bezüge sind vor allem aus dem Zeitgeist und der politischen Kultur der 1990er-Jahre heraus zu erklären. Eine zunehmende Unzufriedenheit der Bürger*innen mit der Politik und der politischen Klasse erreichte damals einen ersten Höhepunkt. 1992 war „Politikverdrossenheit“ das Wort des Jahres.
Demokratiepädagogik als Gegenbegriff zur Politischen Bildung
→ Inhalt
"Erziehung, Bildung, Förderung, Lernen, und Pädagogik sind jeweils für sich genommen bereits komplizierte, komplexe Begriffe, die sinnvollerweise voneinander zu unterscheiden sind."
Benedikt Widmaier
Der Trend gegen den Begriff „Politische Bildung“ setzt sich fort
Neue Praxis auf der Basis unklarer Begriffe
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Bundesregierung in ihrer „Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung“ von 2016 zwar eine Begriffsbestimmung wagt, am Ende aber auf die altbewährte politische Bildung zurückgreift und sie als erstes Handlungsfeld der Demokratieförderung benennt:
„Die Bundesregierung versteht unter Demokratieförderung Angebote, Strukturen und Verfahren, die demokratisches Denken und Handeln stärken, eine demokratische politische Kultur auf Grundlage der wertegebundenen Verfassung fördern und entsprechende Bildungsprozesse und Formen des Engagements anregen. Dazu gehören zum einen Maßnahmen, die demokratieförderliche Rahmenbedingungen und Strukturen aufrechterhalten und verbessern, beispielsweise in Form des Ausbaus von Beteiligungskulturen und –verfahren sowie die Stärkung von Personen in ihrer Urteilskraft und Teilhabe in demokratischen Prozessen und in ihrer Handlungskompetenz gegenüber demokratiefeindlichen Haltungen. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet ein diskursiver Demokratieschutz, der darauf beruht, dass gesellschaftliche und politische Akteure in einer Demokratie mit aufklärenden Argumenten ihre Werte darlegen und verteidigen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die politische Bildung.“7
Bildungs- und jugendpolitisch hat die Bundesregierung die Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung mit dem Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in die Praxis umgesetzt. Die in dieses Programm investierten Mittel hatten in den vergangenen Jahren einen enormen Zuwachs. 2020 sprechen wir von 115 Mio. Euro, für den Haushalt 2021 sind 200 Mio. Euro in der Planung.
Die fachlichpolitische und fachwissenschaftliche Debatte über das Programm „Demokratie leben!“ gestaltet sich sehr träge. Die Träger der politischen Bildung sind eben hoch abhängig von ihren Fördergebern und scheuen eine ernsthafte kritische Debatte. Der Bundesausschuss Politische Bildung (bap), der bundesweite Zusammenschluss der Träger der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, beschäftig sich seit 2017 intensiver mit dem Thema. Vorbereitet von der AG Grundsatzfragen des bap fand im November 2017 ein Fachtag in Berlin und im Februar 2018 eine Fachtagung im Haus am Maiberg in Heppenheim statt. Beide Veranstaltungen – insbesondere die Tagung in 2018 mit dem Titel „Was heißt Demokratieförderung – und welche Rolle spielt dabei die politische Bildung“ – waren zunächst darauf angelegt Klärungsbedarf anzumelden und Kommunikationsräume zwischen „neuen“ Trägern der Demokratieförderung und „alten“ Trägern der politischen Bildung zu schaffen.
Paradigmenwechsel und Strukturwandel kritisch diskutieren
Die Zeit für eine solche intensive fachliche Diskussion ist längst überfällig. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich inzwischen – wenn auch etwas halbherzig, weil die Stellungnahme lange nicht veröffentlicht worden ist – auch die Landeszentralen für politische Bildung zu Wort gemeldet haben. Die Landeszentralen melden zurecht Bedenken an, dass „Parallelstrukturen unter dem Label ‚Demokratiepädagogik‘ entstehen“.
Die Problemanzeige der Landeszentralen bezieht sich insgesamt auf die beiden hier beschriebenen Entwicklungen eines inhaltlichen Paradigmenwechsels – von der politischen Bildung zur Demokratiepädagogik und extremismuspräventiven Demokratieförderung – sowie den institutionellen Strukturwandel mit einem massiven Aufbau von neuen konkurrierenden Trägerstrukturen. Der inhaltliche Paradigmenwechsel hat, wie wir gesehen haben, bereits eine längere Entwicklungsgeschichte hinter sich. Die inflationäre Schaffung neuer, der „Demokratiepädagogik“ ähnlicher Begriffe, ohne eine fundierte inhaltliche und konzeptionelle Bestimmung oder Abgrenzung, ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Wenn die politische Bildung sich als eigenständige Profession versteht und behaupten will, muss sie eine Debatte darüber führen.
"Die inflationäre Schaffung neuer, der „Demokratiepädagogik“ ähnlicher Begriffe, ohne eine fundierte inhaltliche und konzeptionelle Bestimmung oder Abgrenzung, ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Wenn die politische Bildung sich als eigenständige Profession versteht und behaupten will, muss sie eine Debatte darüber führen."
Benedikt Widmaier
Eine solche klärende Fachdebatte ist auch deshalb enorm wichtig, weil schon seit einigen Jahren darüber diskutiert wird, ob das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ nicht im Rahmen eines „Demokratiefördergesetzes“ auf Dauer gestellt werden soll. Die aktuelle Jugendministerin, Franziska Giffey, nutzt jede Gelegenheit ein solches Gesetz immer wieder ins Gespräch zu bringen. Und inzwischen macht es den Anschein, dass auch der Innenminister, Horst Seehofer, nicht mehr abgeneigt ist, ein Demokratiefördergesetz zu unterstützen, nachdem er den „Rechtsextremismus“ als größte Bedrohung ausgemacht hat.
Die Rahmenbedingungen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland würden sich durch ein Demokratiefördergesetz dauerhaft verändern. Die gerade in der extremismuspräventiven Demokratieförderung viel beschworenen zivilgesellschaftlichen Träger der non-formalen Bildungsarbeit wären stärker denn je auf ein einseitiges Thema verpflichtet. Von einer thematischen und demokratischen Vielfalt, die in der (Erfolgs-)Geschichte der Profession eben auch durch die Pluralität der freie Träger der politischen Bildung und ihre eigenständige Auswahl von Themen und Zielgruppen garantiert wurde, kann dann kaum noch gesprochen werden.
1, 2 Edelstein, Wolfgang; Fauser, Peter: Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Programm. Bonn : BLK 2001, 98 S. – (Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung; 96). Online abrufbar: https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=239 [↩]
3 Georgi, Viola B.: Demokratielernen in der Schule: Leitbild und Handlungsfelder. Fonds „Erinnerung und Zukunft“, Berlin, 2006. Online abrufbar: https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/2006_finale_demokratie_lernen.pdf [↩]
4 Breit, Gotthart; Massing, Peter: Demokratietheorien. Wochenschau Verlag, 2005. [↩]
5 Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe: Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, 2017. Online abrufbar: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2017/Politische_Bildung_junger_Menschen.pdf [↩]
6 Bundesjugendkuratorium (2017): Demokratie braucht Alle – Thesen zu aktuellen Herausforderungen und zur Notwendigkeit von Demokratiebildung. Online abrufbar: https://www.demokratie-leben.de/aktuelles/demokratie-braucht-alle-thesen-zu-aktuellen-herausforderungen-und-zur-notwendigkeit-von-demokratie.html [↩]
7 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung, 2016. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/strategie-der-bundesregierung-zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerderung/109024?view=DEFAULT [↩]