GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG

Ab 2000: Demokratieförderung und/oder Politische Bildung – Zur Debatte über Gegenstand und Aufgaben der Politischen Bildung

Im Zuge einer sich ausdifferenzierenden Profession wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, ob der Gegenstand der politischen Bildung nicht „Politik“ und „das Politischen“, sondern vorzugsweise „Demokratie“ und „das Demokratische“ sein sollte. Diese veränderten Bezüge sind vor allem aus dem Zeitgeist und der politischen Kultur der 1990er-Jahre heraus zu erklären. Eine zunehmende Unzufriedenheit der Bürger*innen mit der Politik und der politischen Klasse erreichte damals einen ersten Höhepunkt. 1992 war „Politikverdrossenheit“ das Wort des Jahres.

Demokratiepädagogik als Gegenbegriff zur Politischen Bildung

Anfang der 2000er-Jahre entwickelte sich die wissenschaftlich-pädagogische Debatte über Politische Bildung in eine antipolitische Richtung. Peter Fauser und Wolfgang Edelstein stellten 2001 in einem Gutachten, das Ausgangspunkt eines großen schulischen Modellprojekts mit dem Titel „Demokratie lernen und leben“ war, eine Verbindung zur Politikverdrossenheit der Jugend her. Für sie war klar, dass man „auf politisches Interesse [der Jugend] im weiteren Sinne […] bei einem Programm ‚Demokratie lernen und leben‘ nicht setzen“1 könne. Und sie sprachen weiterhin von Entpolitisierung, Verdrossenheit, Distanz, Ausgeliefertsein, extremer Komplexität der Politikmaterie, Ohnmacht sowie Korruptionsverdacht.

→ Inhalt

Anstatt eine politisch-pädagogische Gegenstrategie zur Rehabilitierung der Politik und des Politischen als notwendige und nicht ohne Weiteres zu entsorgende Kategorien zu entwickeln, favorisieren sie den Begriff der „Demokratie“ und lieferten damit eine Begründung für eine aus ihrer Sicht notwendige Wende hin zu einer neuen „Demokratiepädagogik“: Demokratie bezeichne „eine historische Errungenschaft.“ Sie als „Lebensform, als Gesellschaftsform und als Regierungsform“ zu erhalten, hänge „von dem Wissen, den Überzeugungen und der Bildung aller“ ab. Im Vergleich zur negativen Beschreibung des Erfahrungsraums Politik heißt es pathetisch, „Demokratie wird erfahren durch die Verbindung von Zugehörigkeit, Mitwirkung, Anerkennung und Verantwortung.“2
Nach der damit angestoßenen Entwicklung einer eigenständigen Demokratiepädagogik als Gegenprogramm zur politischen Bildung tauchten weitere Begriffe auf, die gewissermaßen synonyme oder ergänzende Termini für politische Bildung sein sollen. Soweit das für die 2000er-Jahre nachweisbar ist, benutzte die Erziehungswissenschaftlerin Viola B. Georgi in ihrer Publikation „Demokratie lernen in der Schule“3 die vier Begriffe Demokratielernen, Demokratiebildung, Demokratieförderung und Demokratiepädagogik synonym, ohne diese voneinander abzugrenzen. Dem Großtrend folgte im Jahr 2009 dann die Kultusministerkonferenz (KMK) mit einem Beschluss zur „Stärkung der Demokratieerziehung“ und fügte so der Reihe der Begriffe von Georgi einen weiteren Terminus hinzu. Auch im Papier der KMK gehen diese Begriffe quasi synonym durcheinander. Es wird davon gesprochen, dass „Demokratielernen […] Grundprinzip in allen Bereichen [der] pädagogischen Arbeit“ der Schule und dass „Demokratieerziehung […] Aufgabe aller Fächer“ sein soll. Die „Realisierung von Demokratieerziehung und demokratischer Schulkultur [solle ein] Kriterium von Schulentwicklung“ sein.

"Erziehung, Bildung, Förderung, Lernen, und Pädagogik sind jeweils für sich genommen bereits komplizierte, komplexe Begriffe, die sinnvollerweise voneinander zu unterscheiden sind."

Der Trend gegen den Begriff „Politische Bildung“ setzt sich fort

Erziehung, Bildung, Förderung, Lernen, und Pädagogik sind jeweils für sich genommen bereits komplizierte, komplexe Begriffe, die sinnvollerweise voneinander zu unterscheiden sind. Und erst recht stellen sich Fragen nach den Bedeutungen der Worte, wenn all diese Begriffe mit dem Vorwort „Demokratie“ zu Komposita verbunden werden. Ein Standardwerk von Peter Massing und Gotthard Breit zu „Demokratietheorien“4, auf das auch in der politischen Bildung gerne zurückgegriffen wird, stellt für die Moderne acht, für die Gegenwart fünfzehn Demokratietheorien vor. Dabei können wir davon ausgehen, dass es sich bereits um eine sehr reduzierte Auswahl handelt. Alleine die arithmetisch hoch gerechnete Kombination aus politikwissenschaftlichen Demokratie- und erziehungswissenschaftlichen Bildungsbegriffen ist damit so groß, dass die Frage, was wir denn aus dieser neuen Unübersichtlichkeit zusammengesetzter Begriffe in reflektierte Theorie und Praxis politischer Bildung im 21. Jahrhundert transferieren wollen, kaum auf eine schnelle Antwort hoffen kann.
In jüngster Zeit erschienen zur politischen Bildung und zum Demokratielernen einige Stellungnahmen von Verbänden oder Themenausgaben von Zeitschriften. Ende 2017 haben zwei wichtige jugendpolitische Akteure Erklärungen zur politischen Bildung herausgegeben. Das Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), des nationalen Zusammenschlusses für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, hat den Titel „Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit“. Das für eine Positionsbestimmung recht umfangreiche Papier vermeidet konsequent die oben genannten Demokratiekomposita und gewinnt damit eine große Stringenz. Es arbeitet ein „Begriffsverständnis politischer Bildung“ heraus und stellt dabei „das Politische“ in den Mittelpunkt, womit „nicht allein (Partei-)Politik und das Wissen über politische Systeme gemeint ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Menschen gemeinsam ihre öffentlichen Angelegenheiten regeln.“ Im Mittelpunkt des Papiers steht die Orientierung auf Partizipation, Interessenorientierung und politisches Handeln. Der zugrundeliegende Politikbegriff ist an Macht und Herrschaft orientiert und es wird deutlich gemacht, dass „vermeintlich individuelle Herausforderungen auch eine politische Dimension haben“.5
Zeitgleich im Dezember 2017 hat das Bundesjugendkuratorium (BJK) ein Thesenpapier mit dem Titel „Demokratie braucht alle. Thesen zu aktuellen Herausforderungen und zur Notwendigkeit von Demokratiebildung“6 herausgegeben. Als ein von der Bundesregierung eingesetztes Sachverständigengremium ist das BJK das wichtigste jugendpolitische Beratungsgremium in Deutschland. Warum ausgerechnet das BJK, das natürlich auch die Kinder- und Jugendberichte mit verantwortet, in seinem Thesenpapier konsequent den Begriff „politische Bildung“ vermeidet, der im Jugendbericht 2017 im Mittelpunkt steht, ist völlig inkonsequent und nicht nachvollziehbar. Ärgerlich ist vor allem, dass nur an einer einzigen Stelle vom „Fach der politischen Bildung“ gesprochen und damit der Eindruck erweckt wird, dass ein formales Schulfach politische Bildung abzugrenzen ist von der Demokratiebildung in der non-formalen Jugend- und Erwachsenenbildung. Auch sonst entspricht das BJK-Papier nicht den Ansprüchen, die man an ein hochkarätiges Expertengremium stellen darf. In der gesellschaftlichen Diagnosen zur Situation der Jugend werden altbekannte Allgemeinplätze wiederholt. Eine echte innovative Richtung ist im Vergleich zu früheren Verlautbarungen und Aktionen des BJK – etwa der Kampagne „Bildung ist mehr als Schule“ aus dem Jahr 2002 – nicht zu erkennen. Die Zeitschrift „EB-Erwachsenenbildung“ der Katholischen Erwachsenenbildung Deutschland (KEB) hat ihrem Heft 1/2018 den Titel „Demokratieentwicklung“ gegeben. Darüber hinaus haben die „Hessischen Blätter für Volksbildung“ (Heft 3/2018), eine der führenden Fachzeitschriften der Erwachsenenbildung in Deutschland, und das „Journal für politische Bildung“ (Heft 2/2019), die Zeitschrift des Bundesausschusses Politische Bildung, das Thema Demokratiebildung zwischenzeitlich aufgenommen.

Neue Praxis auf der Basis unklarer Begriffe

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Bundesregierung in ihrer „Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung“ von 2016 zwar eine Begriffsbestimmung wagt, am Ende aber auf die altbewährte politische Bildung zurückgreift und sie als erstes Handlungsfeld der Demokratieförderung benennt:

„Die Bundesregierung versteht unter Demokratieförderung Angebote, Strukturen und Verfahren, die demokratisches Denken und Handeln stärken, eine demokratische politische Kultur auf Grundlage der wertegebundenen Verfassung fördern und entsprechende Bildungsprozesse und Formen des Engagements anregen. Dazu gehören zum einen Maßnahmen, die demokratieförderliche Rahmenbedingungen und Strukturen aufrechterhalten und verbessern, beispielsweise in Form des Ausbaus von Beteiligungskulturen und –verfahren sowie die Stärkung von Personen in ihrer Urteilskraft und Teilhabe in demokratischen Prozessen und in ihrer Handlungskompetenz gegenüber demokratiefeindlichen Haltungen. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet ein diskursiver Demokratieschutz, der darauf beruht, dass gesellschaftliche und politische Akteure in einer Demokratie mit aufklärenden Argumenten ihre Werte darlegen und verteidigen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die politische Bildung.“7

GESCHICHTE
Die Geschichte der politischen Erwachsenenbildung ist in Deutschland eine lebhafte. Um die heutige Prägung einordnen zu können, bedarf es einer historischen Kontextualisierung, die den verschiedenen Entwicklungsströmen nachspürt und sichtbar macht.

Bildungs- und jugendpolitisch hat die Bundesregierung die Strategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderung mit dem Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in die Praxis umgesetzt. Die in dieses Programm investierten Mittel hatten in den vergangenen Jahren einen enormen Zuwachs. 2020 sprechen wir von 115 Mio. Euro, für den Haushalt 2021 sind 200 Mio. Euro in der Planung.

Die fachlichpolitische und fachwissenschaftliche Debatte über das Programm „Demokratie leben!“ gestaltet sich sehr träge. Die Träger der politischen Bildung sind eben hoch abhängig von ihren Fördergebern und scheuen eine ernsthafte kritische Debatte. Der Bundesausschuss Politische Bildung (bap), der bundesweite Zusammenschluss der Träger der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, beschäftig sich seit 2017 intensiver mit dem Thema. Vorbereitet von der AG Grundsatzfragen des bap fand im November 2017 ein Fachtag in Berlin und im Februar 2018 eine Fachtagung im Haus am Maiberg in Heppenheim statt. Beide Veranstaltungen – insbesondere die Tagung in 2018 mit dem Titel „Was heißt Demokratieförderung – und welche Rolle spielt dabei die politische Bildung“ – waren zunächst darauf angelegt Klärungsbedarf anzumelden und Kommunikationsräume zwischen „neuen“ Trägern der Demokratieförderung  und „alten“ Trägern der politischen Bildung zu schaffen.

Paradigmenwechsel und Strukturwandel kritisch diskutieren

Die Zeit für eine solche intensive fachliche Diskussion ist längst überfällig. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich inzwischen – wenn auch etwas halbherzig, weil die Stellungnahme lange nicht veröffentlicht worden ist – auch die Landeszentralen für politische Bildung zu Wort gemeldet haben. Die Landeszentralen melden zurecht Bedenken an, dass „Parallelstrukturen unter dem Label ‚Demokratiepädagogik‘ entstehen“.

Die Problemanzeige der Landeszentralen bezieht sich insgesamt auf die beiden hier beschriebenen Entwicklungen eines inhaltlichen Paradigmenwechsels – von der politischen Bildung zur Demokratiepädagogik und extremismuspräventiven Demokratieförderung – sowie den institutionellen Strukturwandel mit einem massiven Aufbau von neuen konkurrierenden Trägerstrukturen. Der inhaltliche Paradigmenwechsel hat, wie wir gesehen haben, bereits eine längere Entwicklungsgeschichte hinter sich. Die inflationäre Schaffung neuer, der „Demokratiepädagogik“ ähnlicher Begriffe, ohne eine fundierte inhaltliche und konzeptionelle Bestimmung oder Abgrenzung, ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Wenn die politische Bildung sich als eigenständige Profession versteht und behaupten will, muss sie eine Debatte darüber führen.

"Die inflationäre Schaffung neuer, der „Demokratiepädagogik“ ähnlicher Begriffe, ohne eine fundierte inhaltliche und konzeptionelle Bestimmung oder Abgrenzung, ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll. Wenn die politische Bildung sich als eigenständige Profession versteht und behaupten will, muss sie eine Debatte darüber führen."

Eine solche klärende Fachdebatte ist auch deshalb enorm wichtig, weil schon seit einigen Jahren darüber diskutiert wird, ob das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ nicht im Rahmen eines „Demokratiefördergesetzes“ auf Dauer gestellt werden soll. Die aktuelle Jugendministerin, Franziska Giffey, nutzt jede Gelegenheit ein solches Gesetz immer wieder ins Gespräch zu bringen. Und inzwischen macht es den Anschein, dass auch der Innenminister, Horst Seehofer, nicht mehr abgeneigt ist, ein Demokratiefördergesetz zu unterstützen, nachdem er den „Rechtsextremismus“ als größte Bedrohung ausgemacht hat.

Die Rahmenbedingungen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland würden sich durch ein Demokratiefördergesetz dauerhaft verändern. Die gerade in der extremismuspräventiven Demokratieförderung viel beschworenen zivilgesellschaftlichen Träger der non-formalen Bildungsarbeit wären stärker denn je auf ein einseitiges Thema verpflichtet. Von einer thematischen und demokratischen Vielfalt, die in der (Erfolgs-)Geschichte der Profession eben auch durch die Pluralität der freie Träger der politischen Bildung und ihre eigenständige Auswahl von Themen und Zielgruppen garantiert wurde, kann dann kaum noch gesprochen werden.

Picture of Benedikt Widmaier

Benedikt Widmaier

Benedikt Widmaier ist Direktor der Akademie für politische und soziale Bildung der Diözese Mainz.

1, 2 Edelstein, Wolfgang; Fauser, Peter: Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Programm. Bonn : BLK 2001, 98 S. – (Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung; 96). Online abrufbar: https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=239 []

3 Georgi, Viola B.: Demokratielernen in der Schule: Leitbild und Handlungsfelder. Fonds „Erinnerung und Zukunft“, Berlin, 2006. Online abrufbar: https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/2006_finale_demokratie_lernen.pdf []

4 Breit, Gotthart; Massing, Peter: Demokratietheorien. Wochenschau Verlag, 2005. []

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe: Politische Bildung junger Menschen – ein zentraler Auftrag für die Jugendarbeit.  Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, 2017. Online abrufbar: https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2017/Politische_Bildung_junger_Menschen.pdf []

6 Bundesjugendkuratorium (2017): Demokratie braucht Alle – Thesen zu aktuellen Herausforderungen und zur Notwendigkeit von Demokratiebildung. Online abrufbar: https://www.demokratie-leben.de/aktuelles/demokratie-braucht-alle-thesen-zu-aktuellen-herausforderungen-und-zur-notwendigkeit-von-demokratie.html []

7 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung, 2016. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/strategie-der-bundesregierung-zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerderung/109024?view=DEFAULT []

Vertiefende Dossiers

Diversität
Die Pluralität unserer Gesellschaft muss sich auch in der Didaktik guter politischer Bildung widerspiegeln. Dieses Dossier zeichnet die Grundlagen des didaktischen Umgangs mit Heterogenität nach und führt in die Überlegungen zur Diversität ein.
Dossier
Digitale Praxis
Die politische Erwachsenenbildung wendet sich aktuell vermehrt digitalen Bildungsmöglichkeiten zu und stellt dabei ihre Angebote um. Es ist also höchste Zeit zu reflektieren, wie eine gute, digitale Praxis der politischen Erwachsenenbildung aussehen kann.
Dossier
Geschichte
Die Geschichte der politischen Erwachsenenbildung ist in Deutschland eine lebhafte. Um die heutige Prägung einordnen zu können, bedarf es einer historischen Kontextualisierung, die den verschiedenen Entwicklungsströmen nachspürt und sichtbar macht.
Dossier
Gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung