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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
1871-1918: Erziehung zwischen Tradition und Moderne – Politische Bildung und Untertanengeist im Deutschen Kaiserreich
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur des Deutschen Kaiserreiches befanden sich um den Jahrhundertwechsel in einem Spannungsverhältnis zwischen Rückwendung zur Tradition und Aufbruch in die Moderne, was sich auch im Bildungssystem und Bildungsverständnis wiederspiegelte. Janka Mittermüller erläutert, t, wie Politische Bildung als Legitimationsinstrument eingesetzt wurde und welche Rolle soziale Gruppen (z.B. Vereine, Lehrende- und Elternverbände) einnahmen.
Durch eine nationalpatriotische politische Bildung sollte der Grundstein für die Sicherung der traditionellen obrigkeitsstaatlichen Herrschafts- und Gesellschaftsstruktur gelegt werden. Gleichzeitig mussten in der aufsteigenden Industrienation auch neue Qualifikationsanforderungen in Wirtschaft, Technik und Verwaltung im Bildungswesen berücksichtigt werden, was zu einer umfassenden Bildungsreform führte. Gleichzeitig wurde die staatlich verordnete Unterweisung der Schülerinnen und Schüler in politischen Gegenwartsfragen zum Impulsgeber für eine umfassende didaktische Diskussion u.a. über Ziele und Gestaltung der schulischen politischen Bildung, die bis heute nachwirkt.
→ Inhalt
Herrschaftslegitimation durch Politische Bildung und Erziehung
"Schon länger hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben."
Auszug der „Allerhöchsten Ordre“ vom 1. Mai 1889 an das preußische Staatsministerium.
Vorwilhelminische Untertanenerziehung im Dienst der Restauration des Deutschen Bundes
ab 1890:
inhaltliche Gestaltung der politisch bildenden Fächer
"Durch die Fokussierung auf die sozio-politischen Leistungen der preußischen Herrscher sollte so die bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsordnung gestützt und gleichzeitig ein Nationalgefühl mittels Rückblick auf die glorreiche vaterländische Vergangenheit gestiftet werden."
Janka Mittermüller
Die national-politische Ausrichtung der politisch bildenden Fächer fand trotz starker Kritik v.a. seitens der Gymnasiallehrer 1892 Eingang in die Lehrpläne der höheren Schulformen. Der Deutschunterricht hatte sich fortan auf germanische Sagen und die großen Werke der deutschen Nationalliteratur zu konzentrieren. Im Geschichtsunterricht sollte schwerpunktmäßig die Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Herrschaft des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm von Brandenburg, über Friedrich den Großen bis hin zum Regierungsantritt Wilhelms II. behandelt werden. Durch die Fokussierung auf die sozio-politischen Leistungen der preußischen Herrscher sollte so die bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsordnung gestützt und gleichzeitig ein Nationalgefühl mittels Rückblick auf die glorreiche vaterländische Vergangenheit gestiftet werden.
Alternativkonzepte staatsbürgerlicher Erziehung im zeitgenössischen Diskurs
Politische Bildung und Erziehung sollte gemäß der Vorstellungen Wilhelms II. also durch eine entsprechende inhaltliche Ausrichtung der Fächer Geschichte, Religion, Deutsch und Geographie – in den Volksschulen auch der Naturkunde – erfolgen. Ein eigenständiges Unterrichtsfach für politische Bildung dagegen konnte sich im Deutschen Kaiserreich nicht etablieren. Dennoch regten die wilhelminischen Reformvorschläge eine Diskussion über dessen Notwendigkeit und generell eine gesellschaftliche Kontroverse um die Politisierung von Schule an.20 Beispielsweise machte es sich die 1909 in Goslar gegründete Vereinigung zur staatsbürgerlichen Erziehung des deutschen Volkes – ab 1911 unter dem Namen Vereinigung für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung bekannt – zur Aufgabe, die Einführung eines Faches zur Staatsbürgerkunde voranzutreiben, indem sie die Staatsregierungen dahingehend berieten. Erste Erfolge zeigten sich bereits 1910: Die Hauptversammlung preußischer Seminarlehrer nahm eine Empfehlung an, Staatsbürgerkunde als Fach in den Lehrerseminaren einzuführen. 1911 fand die Staatsbürgerkunde dann auch ersten Einzug in die Schule: Das preußische Kultusministerium veranlasste, dass zukünftig in den höheren Gymnasialklassen obligatorische durch politische Vorträge und Exkursionen geprägte Kurse für Staatsbürgerkunde stattfinden sollten.21Janka Mittermüller
Janka Mittermüller ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Geschichtsdidaktik am Arbeits-bereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der Universität Trier. Nach Ihrem Studium der Fächer Geschichte und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien an der Universität des Saarlandes, absolvierte Sie ihr Referendariat und war als Gymnasiallehrkraft tätig.
1, 2, 3 Kaiserlicher Erlass Wilhelms II. vom 1. Mai 1889, zit. nach: Gerhardt Giese (Hrsg.): Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800. Göttingen 1961. [↩] [↩] [↩]
4, 12, 13, 18 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Monarchische Präventivbelehrung oder curriculare Reform? Zur Wirkung des Kaiser-Erlasses vom 1. Mai 1889 auf den Geschichtsunterricht, in: Karl-Ernst Jeismann (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S.256-275. [↩] [↩] [↩] [↩]
5, 8, 9, 20, 23 Sabine Dengel: Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit. Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR. Frankfurt a.M. 2005 [↩] [↩] [↩]
6 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann: Das Kaiserreich als Erziehungsstaat? Möglichkeiten und Grenzen der politischen Erziehung in Deutschland 1871-1918, in: GWU H. 12 (1998), S.728-745; hier: S. S.745. [↩]
7, 10, 11, 15, 21, 24 Vgl. Detjen, Joachim: Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. Berlin, 2014. [↩] [↩] [↩]
14 zit. nach: Giese, Gerhardt (Hrsg.): Quellen zur deutschen Schulgeschichte seit 1800. Göttingen 1961. [↩]
15 Vgl. z.B. Joachim Schaede: Ein Primaner-Aufsatz aus dem Jahre 1913. In: GWU 5 (1954), S.168-174. [↩]
16 Vgl. z.B. Joachim Schaede: Ein Primaner-Aufsatz aus dem Jahre 1913. In: GWU 5 (1954), S.168-174. [↩]
17, 19 Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt a.M. 22010, S.343. [↩]
22 Dörpfeld, Friedrich Wilhelm (1962): Grundlinien einer Theorie des Lehrplans, zunächst für Volks- und Mittelschulen (1873), in: Derselbe: Schriften zur Theorie des Lehrplans. Heraus-gegeben von Albert Reble. Bad Heilbrunn, S. 5–81; hier: S.24. [↩]
5 is ende