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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
DDR: Staatsbürgerliche Erziehung und sozialistische Persönlichkeitsbildung
Staatsbürgerliche Erziehung kam in der formierten Gesellschaft der DDR über den Rahmen des Bildungssystems eine bedeutende Rolle zu. Im Folgenden illustriert Prof. Dr. May die gesellschaftstheoretische Bedeutung staatsbürgerlicher Erziehung in der DDR, deren Ziele und Mittel und stellt ausgewählte Facetten vor.
Gesellschaftstheoretischer Hintergrund: Staatsbürgerliche Erziehung
→ Inhalt
Im Sinne des historischen Materialismus wurde der geschichtliche Ablauf als Konsequenz der materiellen bzw. sozio-ökonomischen Bedingungen und vor allem der gesellschaftlichen Widersprüche aufgefasst. Demnach würden Klassengegensätze die historische Entwicklung vorantreiben. In der Epoche des Kapitalismus würden sich die Widersprüche zwischen der Bourgeoisie (besitzende Klasse) und dem ausgebeuteten Proletariat (verfügt nur über Arbeitskraft) so zuspitzen, dass durch einen revolutionären Akt des Proletariats die Herrschaft der Bourgeoisie beseitigt werden würde. Hierzu bedürfe es aber einer Avantgarde, die sich an die Spitze der Revolution stellt und die noch wankelmütigen Proletarier*innen mitzieht.
"Die vom vorgeblichen Joch des Kapitalismus befreiten DDR-Bürger*innen blieben alten, bürgerlichen Denkgewohnheiten verhaftet und näherten sich den von der Parteileitung erwünschten Bewusstseinszuständen nur sehr verhalten an."
Prof. Dr. May
Persönlichkeitsbildung als Ziel staatsbürgerlicher Erziehung in der DDR
- Haltungen zum Sozialismus: Orientierung an den Ideen des Sozialismus; Achtung der „Errungenschaften des Sozialismus“ (in der DDR)
- Haltungen zum eigenen Land und zu anderen Völkern: Vaterlandsliebe bei gleichzeitigem „Internationalismus“; Freundschaft zur Sowjetunion und zu den „sozialistischen Bruderländern“; „Frieden und Völkerfreundschaft“ in antiimperialistischer Solidarität mit den Unterdrückten dieser Welt
- Haltungen zum „Imperialismus“: Offensive Auseinandersetzung mit der „imperialistischen Ideologie“ und Verteidigungsbereitschaft des Sozialismus gegen „alle Feinde“
- Persönlichkeitseigenschaften: „Verantwortungsgefühl für sich und andere, Kollektivbewusstsein und Hilfsbereitschaft, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, Mut und Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin, Achtung vor den Älteren, ihren Leistungen und Verdiensten sowie verantwortungsbewusstes Verhalten zum anderen Geschlecht“; Gesundheit und Leistungsfähigkeit
Erziehungsstaat DDR
"Zur Erzeugung von Hingabe an die sozialistische Weltanschauung kamen nicht nur inhaltlich orientierte Agitation und Propaganda zum Einsatz. Gerade die Massenorganisationen bauten auf die emotionalen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit."
Prof. Dr. Michael May
Erziehung in der Schule
Die Schule spielte naturgemäß eine bedeutende Rolle bei der staatsbürgerlichen Erziehung in der DDR. Dabei war auch hier die Beeinflussung umfassend und nicht nur auf ein Unterrichtsfach beschränkt. So sollte das Schulleben durch hauptamtliche Pionierleiter*innen mitgestaltet werden. Im „Traditionskabinett“ der Schule wurden reliquienartig bestimmte Devotionalen des Klassenkampfes der eigenen Region aufbewahrt und Sitzungen abgehalten.
„Hundreds of ships come in and leave the port every week and you can see seamen from all over the world there. „And a lot of dockers work there, don‘t they?“ says Jenny. But Bill tells her that there is no much work for dockers in a modern port. Cranes load and unload the container ships and the big roll-on/roll-of ships open so that lorries with goods roll on or off. So more and more London dockers losing there jobs“8
Das Fach Staatsbürgerkunde gilt als ideologisches Schlüsselfach der Persönlichkeitsbildung. Es wurde ab 1963 bis zum Ende der DDR ab der 7. Klasse mit bis zu zwei Wochenstunden unterrichtet. Staatsbürgerkunde war damit Teil des Fächerkanons der allgemeinen zehnklassigen Polytechnischen Oberschule (mittlere Reife) sowie der Erweiterten Oberschule (Abitur), die im Zuge der Schulgesetze von 1959 und 1965 etabliert wurden9. Auch im Fach Staatsbürgerkunde zeigt sich der spezifische Charakter der staatsbürgerlichen Erziehung in der DDR. Die sozialistische Weltanschauung soll nicht nur ein Ergebnis des Wissens und der Kompetenzen sein, sondern eine Sache des Denkens, Handelns und Fühlens (Kirsch 2016). Zentral für das Fach war deshalb die Bildung von „Überzeugungen“. Prägend sind die Zielbestimmungen von Gerhart Neuner (1929-2008), Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR und Staatsbürgerkunde-Didaktiker, geworden10:- „Die Überzeugung vom objektiven Charakter der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung in Natur und Gesellschaft und vom Wahrheitsgehalt und der großen gesellschaftlichen Rolle der marxistisch-leninistischen Theorie.
- Die Überzeugung von der historischen Mission der Arbeiterklasse, geleitet von der Theorie des Marxismus-Leninismus und unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg zu überwinden und den Sozialismus und Kommunismus aufzubauen.
- Die Überzeugung, dass der Charakter unserer Epoche durch den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus bestimmt wird und der Sozialismus ebenso gesetzmäßig siegen wird wie der Imperialismus zum Untergang verurteilt ist.
- Die Überzeugung von den historischen Aufgaben der Deutschen Demokratischen Republik als Vaterland aller guten Deutschen im Kampf um Frieden, Demokratie und Sozialismus in ganz Deutschland.
- Die Überzeugung von der Macht und Sieghaftigkeit des sozialistischen Weltsystems mit der Sowjetunion an der Spitze und der mächtigen Kampffront für Frieden, Demokratie und Sozialismus.
- Die Überzeugung, dass der Sinn des Lebens darin besteht, als Staatsbürger*in die Rechte und Pflichten gegenüber der Gesellschaft bewusst wahrzunehmen und sein persönliches Leben im Sinne der Grundsätze der sozialistischen Moral zu gestalten“.
Fazit: „Die Erfahrung des Misslingens ist nicht Monopol der DDR-Pädagogik“

Prof. Dr. Michael May
Prof. Dr. Michael May ist seit 2012 Universitätsprofessor für Didaktik der Politik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf den normativen Grundlagen und Konzeptionen politischer Bildung sowie Demokratiegefährdung und politische Bildung.
1 Esser, Josef (2004): Art. „Leninismus“. In: Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Bd. 1. München. [↩]
2 Glesermann, G. J. (1967): Das Verschmelzen der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen und die Formung des neuen Menschen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 15, S. 418–434. [↩]
3, 4, 5 Jugendgesetz der DDR (1974), http://www.verfassungen.de/ddr/jugendgesetz74.htm (abgerufen am 06.10.2020) [↩] [↩] [↩]
6 Schroeder, Klaus (1998): Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR. München. [↩]
7 Spiegel (1989): Sensible Themen. In: Spiegel 47/1989. S. 45-47, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13497873.html (abgerufen am 06.10.2020) [↩]
8 „English for you“, VEB Volk und Wissen, Verlag Berlin, 1986. [↩]
9 vgl. Grammes, Tilman/Schluß, Henning/Vogler, Hans-Joachim (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden. Siehe zudem Schmitt, Karl (1980): Politische Erziehung in der DDR. Ziele, Methoden und Ergebnisse des politischen Unterrichts an den allgemeinbildenden Schulen der DDR. Paderborn. [↩]
10 Neuner, Gerhart/Weitendorf, Friedrich/Lobeda, Wolfgang (1969): Zur Einheit von Bildung und Erziehung im Staatsbürgerkundeunterricht. Berlin. [↩]
11, 14, 15, 16 Grammes, Tilman/Schluß, Henning/Vogler, Hans-Joachim (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden. [↩] [↩] [↩] [↩]
12 Grammes, Tilman (2014): Sozialistische Erziehung in der DDR – Ziele, Institutionen, Wirkungen. In: Sander, Wolfgang/Steinbach, Peter (Hg.): Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen. Bonn. [↩]
13 Kirsch, Anja (2016): Weltanschauung als Erzählkultur. Zur Konstruktion von Religion und Sozialismus in Staatsbürgerkundeschulbüchern der DDR. Göttingen. [↩]
17 May, Michael (2019): Lernen aus der DDR-Staatsbürgerkunde. Eine hochschuldidaktische Analyse. In: Fröhlich, Manuel/Lembcke, Oliver W./Weber-Stein/Florian (Hg.): Universitas. Ideen, Individuen und Institutionen in Politik und Wissenschaft. Baden-Baden. S. 599-614. [↩]
18 Gruschka, Andreas (1992): Die Pädagogik lässt sich nicht abwählen. Das Verhältnis von bürgerlicher und sozialistischer Pädagogik nach dem Ende der DDR. In: Zeitschrift für Pädagogik 38 (4), S. 575–596. [↩]
Vertiefende Dossiers
