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GESCHICHTE
DER POLITISCHEN BILDUNG
70er Jahre: Profession im Spannungsfeld zwischen „Beutelsbacher Konsens“ und „Radikalenerlass“
Die 1970er Jahre sind Jahre der politischen Polarisierung und der bildungspolitischen Modernisierung. Sie sind Weichen stellend für die schulische und außerschulische politische Bildung und deren Professionalität und Professionalisierung. Der „Beutelsbacher Konsens“ und „Radikalenerlass“ markieren Eckpunkte der politischen Kultur dieser Zeit.
Der Geschichte Kontext der 70er JAhre
Die 1970er Jahre gehören zu dem Zeitraum, in dem entscheidende Weichen in der theoretisch-konzeptionellen Entwicklung, der Professionalität und Professionalisierung der schulischen und außerschulischen politischen Bildung gestellt wurden, und in denen es zugleich konflikthafte Kontroversen zum Demokratie- und Professionsverständnis gab. Dafür stehen die beiden Begriffe „Beutelsbacher Konsens“ und „Radikalenerlass“, ein Begriffspaar und zwei Seiten einer Medaille, mit denen die zeitbezogenen Entwicklungen und kontroversen Debatten markiert werden können. Sie haben epochale Bedeutung und sind Schlüsselkontroversen in der Begründung und Herausbildung des Bildungsfeldes und des Professionsverständnisses.
→ Inhalt
Die 1970er Jahre waren Dekade, die u. a. durch folgende Merkmale und Kontexte gekennzeichnet war: Sie waren eine Dekade, die vom traditionellen Drei-Parteiensystem der Bundesrepublik und einer sozial-liberalen Koalition geprägt wurde sowie mit heftigen politischen Kontroversen um die Demokratisierung der Gesellschaft und die Ostpolitik von Willy Brandt verbunden war. Es war weiter eine Dekade politischer Radikalisierungen in Teilen der akademischen jungen Generation, die sich aus der „68er Bewegung“ entwickelte und u. a. in zahlreichen K-Gruppen ihren organisatorischen und ideologischen Niederschlag gefunden hatte. Es war schließlich eine Phase der Bildungsreform bzw. der bildungspolitischen Modernisierung und des Aufbruchs im Bereich der Weiterbildung. Das gilt auch für die Zielsetzungen und Professionalisierung in der schulischen Didaktik im Kontext der Lehrer*innenbildung sowie der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, die jetzt erstmals in zahlreichen Ländergesetzen – in Jugendbildungs- und Erwachsenenbildungsgesetzen sowie Freistellungsgesetzen – geregelt wurde1.
Radikalenerlass
Nach dem Beschluss der Landesregierungen und der Bundesregierung vom 18. 02. 1972 ging es mit dem „Radikalenerlass“ (auch „Extremismusbeschluss“ genannt) um die Überprüfung der Verfassungstreue von Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst. Dabei sollte über eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz und Einzelfallprüfung verhindert werden, dass Verfassungsfeinde Beamt*innen werden. In den Grundsätzen des Erlasses hieß es u. a.: „Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt; Beamte sind verpflichtet sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. (…). Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst gelten entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen dieselben Grundsätze“.
"Insgesamt wurden zwischen 1972 und 1991 etwa 3,5 Millionen Bewerber*innen überprüft; rund 1.250 wurden nicht eingestellt und 260 Personen entlassen."
Prof. Benno Hafeneger
Hintergrund des Erlasses waren die Polarisierung der Gesellschaft, die auch mit Gewaltformen verbundenen Aktivitäten der Außerparlamentarischen Opposition und die Gründung zahlreicher K-Gruppen, die das westliche Demokratiemodell ablehnten und bekämpften. Dazu zählte neben maoistischen Gruppen insbesondere die 1968 gegründete DKP und ihre Nebenorganisationen. Der Erlass wurde als Instrument der wehrhaften Demokratie begründet, nach der verhindert werden sollte, dass es vor allem mit Blick auf Schulen und Hochschulen zur „Unterwanderung“ und linksextremer „Indoktrination“ der jungen Generation kommt. Insgesamt wurden zwischen 1972 und 1991 etwa 3,5 Millionen Bewerber*innen überprüft; rund 1.250 wurden nicht eingestellt und 260 Personen entlassen. Betroffen waren vor allem Lehrer*innen und Hochschullehrer*innen.
Es gab eine heftige und kontroverse politische und rechtliche Diskussion über den „Radikalenerlass“, der von den Betroffenen und in der öffentlichen Diskussion mit dem Begriff „Berufsverbote“ belegt wurde. Sie bezog sich u. a. auf das Selbstverständnis einer offenen Demokratie und auf Regeln des Umgangs mit radikaler Kritik und alternativen Demokratievorstellungen. Dabei wurde vor allem mit Art. 3 des GG argumentiert, oder dass eine Demokratie nicht mit Verboten auf fundamentale Kritik reagieren darf; weiter wurde darauf verwiesen, dass das Bundesverfassungsgericht und nicht Behörden über Verfassungsfeindlichkeit zu entscheiden habe.2
Der „Radikalenerlass“ wurde dann – nach zahlreichen Klagen und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1975, das keine endgültige Klarheit brachte – 1979 als „Fehler“ charakterisiert und von der Regierungskoalition aus SPD und FDP aufgekündigt. Die Landesregierungen gingen jetzt eigene Wege und ab 1985 würde die Überprüfung auch hier abgeschafft; zuletzt im Jahr 1991 in Bayern. Diese Entwicklung kann auch als „Lernprozess der Demokratie“ bezeichnet werden, die bereit ist Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Beutelsbacher Konsens
Die Formulierung des „Beutelsbacher Konsens“ war mit einer zeitbezogenen Situation verbunden, die Wolfgang Sander für die schulische Politikdidaktik so charakterisierte: „Innerfachlich polarisierte sich die Diskussion zwischen Vertretern eines „linken“ Lagers, in dem politische Bildung als pädagogisches Instrument zur Demokratisierung der Gesellschaft verstanden wurde, und neuen „konservativen“ Ansätzen, die die Aufgabe des Faches eher in der Verteidigung der verfassungsmäßigen politischen Ordnung und der Sozialen Marktwirtschaft sahen“3.
Um diese Polarisierung zu überwinden hatte Siegfried Schiele, der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, 1976 zu einer Fachtagung ins schwäbische Beutelsbach eingeladen. Hier wurden von den Fachdidaktikern aus den unterschiedlichen Lagern für die schulische und auch außerschulische politische Bildung drei Grundprinzipien und eine zugleich berufsethische Konsensformel gefunden, die Hans-Georg Wehling 1977 dann so formulierte:
- „Überwältigungsverbot. „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der `Gewinnung eines selbstständigen Urteils` (…) zu hindern. (….).
- Was in der Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. (…).
- Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. (…).“ 4
In den weiteren Formulierungen werden Aspekte wie „Indoktrinationsverbot“ , die Herausarbeitung von „Alternativen“, der „mündige Schüler“ mit „operationalen Fähigkeiten“, und das „der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden“ akzentuiert.
Die kommunikativ hergestellte und formlose Vereinbarung der Politikdidaktiker mit den drei Merkmalen – Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Teilnehmenden-/Interessenorientierung – wurde dann zu einem breiten didaktischen und demokratiepolitischen Minimalkonsens, der die weitere Entwicklung des Faches (der schulischen Lehr- und Bildungspläne), den öffentlichen Auftrag und das Verständnisses der politischen Bildung in der pluralistischen Demokratie beeinflusst und geprägt hat. Sie waren orientierend in der Herausbildung eines beruflichen Selbstverständnisses bzw. eines eigenständigen Berufsbildes, dass vor allem in der schulischen und dann auch in einigen Bereichen der – bei allen trägerbezogenen Differenzierungen und Nuancierungen – außerschulischen politischen Bildung tragfähig wurde.
Der Begriff „Beutelsbacher Konsens“ etablierte sich ab den 1980er Jahren und für Siegfried Schiele ist er „das am häufigsten Zitierte, das ich im Bereich der politischen Didaktik je gesehen habe“5. Die weitere Diskussion und Würdigung zeigen – so die Publikationen nach 40 Jahren – die lange Wirkungsgeschichte, und dass er neben der zeitbezogenen Bedeutung und Resonanz bis heute eine breite Akzeptanz und bemerkenswerte Geltung hat. Mit ihm ist es gelungen in einer polarisierten Dissenskultur und Lagerbildung einen tragfähigen Minimalkonses zu finden6.
Zugleich wird der „Beutelsbacher Konsens“ in den letzten Jahren vor allem von Vertretern der außerschulischen politischen Bildung problematisiert und gefragt, ob er heute noch zeitgemäß ist. So problematisiert Klaus Ahlheim, das in der Konsensformel angelegte „Neutralitätsgebot“ und die Gefahr einer damit verbundenen „Entpolitisierung der politischen Bildung“. Er plädiert vor dem Hintergrund von Demokratie gefährdenden Entwicklungen für eine engagierte, aufklärende, parteiergreifende und konfliktorientierte politische Bildung.7 Thomas Krüger würdigt den Zeitbezug (Parteienlandschaft, Zeitgeist) und plädiert für einen „Beutelsbach 2.0“, der mit Blick auf das Grundgesetz und die Grundrechte „aktuelle gesellschaftliche Realitäten wie auch politische Debatten stärker akzentuiert und berücksichtigt“. Mit Blick auf das Kontroversitätsgebot akzentuiert er, dass „der Beutelsbacher Konsens nicht gleichbedeutend mit Neutralität ist, denn ihm ist eine demokratische Haltung inhärent“.8 Für beide Autoren gehören der Konflikt und die Konfliktbereitschaft des Feldes und der Profession konstitutiv zum Selbstverständnis der politischen Bildung im 21. Jahrhundert.
Fazit
Der „Beutelsbacher Konsens“ und die Diskussion über den „Radikalenerlass“ haben in der Geschichte der politischen Bildung und in der Herausbildung sowie Konturierung der Profession – mit den Fragen, wer darf politisch bilden und welche basale demokratische Orientierung begründet die Profession – einen wichtigen (geradezu Weichen stellenden) Beitrag gehabt. Der Konsens lieferte mit seinen bekannten Orientierungen eine gemeinsame demokratiepolitische, didaktische und professionsbezogene Begründung; der „Radikalenerlass“ machte mit der Diskussion und seiner Aufhebung deutlich, dass auch (fundamentale) Kritik, die Austragung von (harten) Konflikten und Kontroversen zu den zentralen Merkmalen des Feldes und der Profession zählen. Dabei muss es nach Schiele – so in einem Interview 40 Jahre nach dem „Beutelsbacher Konsens“ – mit den „zentralen freiheitlich-demokratischen Prinzipien unserer Verfassung“ ein Fundament geben, „über das man nicht streitet, dazu gehört unbedingt die Anerkennung der Menschenwürde“9.
Prof. (em.) Benno Hafeneger
Benno Hafeneger, Dr. phil., Prof. (em.) arbeitete am Institut für Erziehungswissenschaft, Philipps-Universität Marburg. Lehr- und Forschungsschwerpunkte im Bereich Jugend, Jugendarbeit und außerschulische Jugendbildung; weiter rechte Jugendkultur und extremistische Orientierungen in der jungen Generation.
1, 3 vgl. Sander, Wolfgang (HRSG.) (2014): Handbuch Politische Bildung, Schwalbach/Ts. [↩] [↩]
2 vgl. Bethge, Horst et. al. (Hrsg.) (1976): Die Zerstörung der Demokratie durch Berufsverbote, Köln und Brückner, Jens A. (1977): Das Handbuch Berufsverbote, Berlin. [↩]
4 Wehling, Hans Georg (1977): Konsens a la Beutelsbach? In: Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart, S. 173 – 184. [↩]
5, 9 Buchstein, Hubertus/ Frech, Siegfried/ Pohl, Kerstin (Hrsg.) (2016): Beutelsbacher Konsens und politische Kultur. Siegfried Schiele und die politische Bildung, Schwalbach/Ts. [↩] [↩]
6 vgl. auch Widmaier, Benedikt/ Zorn, Peter (Hrsg.) (2016): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Diskussion der politischen Bildung, Bonn. [↩]
7 Ahlheim, Klaus (2018): Beutelsbacher Konsens? Politische Bildung in Zeiten von AfD und Co., Münster. [↩]
8 Krüger, Thomas (2020): Beutelsbach 2.0 – zehn Thesen zur politischen Bildung. In: Hentges, Gudrun (Hg.), Krise der Demokratie – Demokratie in der Krise, Frankfurt/M., S. 177 – 193. [↩]