WIE GEHT GUTE POLITISCHE BILDUNG?

Politische Bildung in muslimischer Trägerschaft: Ein Plädoyer

Politische Selbstbestimmung, Machtkritik und auf gleichen Rechten beruhende Teilhabechancen werden zunehmend mit Bezug auf die Praxis der politischen Bildungsarbeit diskutiert. Auf der Suche nach geeigneten Wegen, um die pluralen Gesellschaftsverhältnisse auch auf der Akteursebene der politischen Bildungslandschaft abzubilden, kann muslimischen Trägern der politischen Bildung eine wichtige Rolle zukommen; dies umso mehr, als „[d]ie Auflösung alter Milieus und der Bedeutungsverlust traditioneller Institutionen“1 auch die muslimische Bevölkerung betrifft. Als ein Ort der Demokratiebildung hat die Muslimische Akademie Heidelberg i. G. es sich zur Aufgabe gemacht, politische Bildung in muslimisch-konfessioneller Trägerschaft zu institutionalisieren und zugleich gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen.
Die Zentralen für politische Bildung weisen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme von 2020 zurecht darauf hin, dass
„Diskurse und Selbstverständnisse des politischen Feldes … von der Lebensrealität vieler Menschen entkoppelt [sind]“ und „die Interessen und Erfahrungen eines erheblichen Teils der Bevölkerung nur noch unzureichend vom politischen Feld repräsentiert werden“.2

→ Inhalt

Parallel hierzu wird diese Entwicklung aktuell begleitet von der bundesweiten Entstehung zahlreicher muslimischer Bildungsinitiativen, die sich im Bereich der politischen Bildung verorten. Diese Akteure eint eine hohe, maßgeblich im eigenen Glauben gründende Motivation, gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und dabei insbesondere auch die muslimische Zivilgesellschaft zu empowern. Glaube erhält so eine gesellschaftliche Funktion, wird Faktor für gesellschaftliches, demokratisches Engagement. Muslimisch-konfessionelle Einrichtungen der politischen Bildung kommt dementsprechend in dreierlei Hinsicht Bedeutung zu:

1. Diversifizierung der Trägerlandschaft

Politische Bildung hat zum Ziel, die Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Vermittlung von Urteils- und Kritikfähigkeit sowie politischem (Handlungs-)Wissen zu fördern und die Bürger*innen dadurch zu einer aktiven Teilhabe an unserer pluralen Demokratie zu befähigen. Damit dies gelingt, sollte ihre Trägerlandschaft idealerweise die gesellschaftliche Diversität widerspiegeln. Unter dem Titel „Modernisierung und Ausbau der Trägerstrukturen der politischen Erwachsenenbildung“ hat die Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB) diesen Bedarf erkannt und im Jahre 2019 eine Modellförderung angestoßen, im Rahmen derer genau diese Diversifizierung der Trägerlandschaft ermöglicht und gefördert werden soll. Denn eine diverse und plurale Trägerstruktur in der politischen Bildung ist schlussendlich auch notwendig, um die demokratische Zivilgesellschaft in der postmigrantischen Gesellschaft nachhaltig zu repräsentieren und zu stärken.

"Um eine angemessene Repräsentanz der Gesellschaft und eine vielfältige Zielgruppenerreichung sicherstellen zu können, müssen neue Träger in ihrer Gründung unterstützt und nachhaltig im Feld verankert werden. "

Yasemin Soylu, Muslimische Akademie Heidelberg i.G.

Einrichtungen der politischen Bildung gelten somit als Ausgangspunkt und Motor gesellschaftlicher Diskurse und leisten einen unverzichtbaren Beitrag, um die Herausforderungen unseres Zu­sammenlebens und die Bewahrung eines friedlichen Miteinanders zu meistern. Längst ist klar, dass den wachsenden Anforderungen nur mit neuen Formaten und Trägern der politischen Bildung begegnet werden kann. Die aktuelle Landschaft der politischen Bildungsträger spiegelt jedoch längst nicht die Diversität der Gesellschaft wider. Um eine angemessene Repräsentanz der Gesellschaft und eine vielfältige Zielgruppenerreichung sicherstellen zu können, müssen neue Träger in ihrer Gründung unterstützt und nachhaltig im Feld verankert werden. So können sich plurale Perspektiven der Bürger*innen in den gesamtgesellschaftlich geführten Diskursen niederschlagen. Das bpb-Modellprojekt „Aus dem Glauben heraus?! – Politische Bildung in muslimisch-konfessioneller Trägerschaft“ der Muslimischen Akademie Heidelberg i. G. unterstützt insbesondere muslimische Träger der Zivilgesellschaft dabei, sich im Bereich der politischen Bildung zu qualifizieren und professionalisieren, um sich mit ihrem Wirken nachhaltig etablieren zu können. Die Prinzipien der politischen Bildung (v.a. Beutelsbacher Konsens mit Kontroversitätsgebot) bilden dabei die Qualitätsgrundlage für die praktische Arbeit.

Die Muslimische Akademie Heidelberg i. G. möchte im Spannungsfeld von Glau­be, Gesellschaft und Wissenschaft einen Resonanzraum für gesamtgesellschaftlich relevante Fragen und Kontroversen schaffen sowie Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen. Das Konzept orientiert sich am Vorbild und der erfolgreichen Praxis christlicher Akademien. Mittels Angeboten der politischen Bildung werden Antworten für die Herausforderungen unserer Gesellschaft im Hier und Heute gesucht und im Idealfall auch formuliert. Im Besonderen hat es sich unsere Einrichtung zur Aufgabe gemacht, einerseits die Selbstverständlichkeit muslimischen Engagements sichtbar zu machen und andererseits die Verantwortungsübernahme von Muslim*innen zu fördern, um dadurch einen Paradigmenwechsel in jenem Themenfeld einzuleiten, das unsere Gesellschaft seit Jahrzehn­ten polarisiert.

Die Bildungsangebote zielen auf proaktive – und dabei möglichst inklusive – Demokratieförderung, um die freiheitlich-demokratischen Werte fortlaufend zu aktualisieren und lebendig zu halten. Sie sollen zu einem selbstverständlichen Engagement befähigen und ermutigen. Dem Prinzip der Teilnehmerorientierung folgend setzen die Angebote je nach Zielgruppe und Thematik auf unterschiedlichen Ebenen an. Einige Formate leisten Grundlagenarbeit, indem sie Basis- und Orientierungswissen zu bestimmten Themenfeldern liefern und so ein Verständnis für die jeweiligen (gesellschafts-)politischen Zusammenhänge vermitteln. Bei anderen Formaten steht die Aneignung politischer Analyse- und Urteilsfähigkeit (z.B. durch den Austausch kontroverser Positionen) im Vordergrund. Ein Teil der Angebote nimmt besonders die muslimische Zivilgesellschaft als Zielgruppe in den Blick, um Muslim*innen durch den Erwerb einschlägiger (u.a. auch prozeduraler) Kompetenzen zu vermehrter politischer Partizipation zu befähigen (gesellschaftspolitisches Empowerment).

2. Zielgruppenerreichung: Ansprache von Muslim*innen als Zielgruppe

Einrichtungen der politischen Bildung in muslimischer Trägerschaft besitzen ferner das große Potenzial, als Multiplikatoren in die muslimischen Gemeinschaften hineinzuwirken und somit Zielgruppen anzusprechen, die von der politischen Bildungslandschaft bisher nur schwer erreicht werden. Dieses Potenzial gilt es im Sinne einer pluralen, alle Bevölkerungssegmente berücksichtigenden, Zielgruppenansprache zu heben. Die Angebote von konfessionellen Einrichtungen politischer Bildung richten sich selbstverständlich an die Gesamtgesellschaft, jedoch bringen muslimisch-konfessionelle Träger dabei spezifische Zugänge zu Muslim*innen als Zielgruppe mit. So werden diese als mündige Bürger*innen einer pluralen Demokratie angesprochen, was wiederum Räume eröffnet, Ohnmachtshaltungen zu überwinden, Interessen zu formulieren sowie politische Urteils- und Handlungskraft zu fördern.

Perspektiven & Positionen
Politische Bildung — eine bunte, lebendige und herausfordernde Landschaft — geht über Staatsbürgerkunde oder Politikunterricht weit hinaus. Außerhalb von Schulen existiert eine vielfältige Bildungslandschaft mit zahlreichen Angeboten. Wir stellen verschiedene Träger und Akteur*innen der Politischen Bildung vor.
Dossier

Gleichzeitig werden Muslim*innen auf diesem Wege ganz selbstverständlich in die Verantwortung genommen, gesellschaftliche Demokratie- und Vielfaltsdiskurse in ihre Gemeinschaften hineinzutragen und sich zu diesen zu positionieren. Zugleich bieten Muslimische Akademien – ganz nach dem Vorbild ihrer christlich-konfessionellen Partnerinstitutionen – einen Rückzugsraum, der es erlaubt, im geschützten Rahmen auch kontroverse innermuslimische Aushandlungsprozesse zu führen, Diskurse zu moderieren und so den innermuslimischen Reflexions- und Selbstvergewisserungsprozess lebendig zu halten. Ergänzend zu den islamisch-theologischen Instituten an Universitäten einerseits sowie den muslimischen Glaubensgemeinschaften andererseits braucht es hierfür Räume der politischen Bildung bzw. Akademien, die als zivilgesellschaftlicher, „neutraler“ Raum dazu in der Lage sind, Diskurse aus Wissenschaft und Glaubenspraxis zusammenzuführen, kontrovers zu moderieren und in zivilgesellschaftliches Handeln zu übertragen.

3. Muslim*innen als Akteure der Politischen Bildung: Glaube als Triebfeder und Bedeutungszusammenhang für zivilgesellschaftliches, demokratisches Engagement

Neben der Bedeutung für eine diversen Trägerlandschaft sowie der Ansprache von Muslim*innen als Zielgruppe und ihre Einbindung über inhaltliche Positionen und Bildungsformate, bedarf es jedoch auch der Repräsentation auf der Akteursebene, über welche sich Muslime als pluraler Teil der Zivilgesellschaft verorten, proaktiv Verantwortung übernehmen für unsere gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen und Diskurse mitgestalten.

Einrichtungen der politischen Bildung in muslimischer Trägerschaft bilden eben diese Akteursebene der muslimischen Zivilgesellschaft ab. Als „Dritter Raum“ führen sie das Religiöse mit dem Säkularen in Austausch, zwei Sphären, die sich auch in unserer Gesellschaft immer wieder begegnen, und öffnen so Wege aus der Welt des Glaubens in die Zivilgesellschaft und umgekehrt. Grundlegende Motivation ist es, hierbei aus dem Glauben heraus Verantwortung zu übernehmen für die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Diese werden immer komplexer und lassen sich nur beantworten, wenn hierbei alle Bürger*innen die in unserer Gesellschaft leben ihren Teil zur Beantwortung der Fragen beitragen

"Muslimische Akademien bieten die Chance, die gesellschaftliche Polarisierung im Themenfeld rund um den Islam und Muslimischen Lebens in Deutschland zu überwinden und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sowie Verantwortungsübernahme für gemeinsame Anliegen zu ermöglichen. "

Yasemin Soylu, Muslimische Akademie Heidelberg i.G.

Hierzu muss es uns auch gelingen, das was in den aktuellen Debatten rund um „Islam und Muslimisches Leben in Deutschland“ als Aushandlungsprozess zwischen sogenannten Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft diskutiert wird, als gesamtgesellschaftliches Anliegen zu adressieren. Muslimische Akademien bieten diese Chance, die gesellschaftliche Polarisierung im Themenfeld zu überwinden und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sowie Verantwortungsübernahme für gemeinsame Anliegen zu ermöglichen.

Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass „[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat … von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“3, dann bedarf es einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure, die diese Voraussetzungen sichern, indem sie anhand unterschiedlicher Erklärungsansätze Identifikationsmomente mit selbigem schaffen. Orte der Demokratiebildung in muslimischer Trägerschaft ermöglichen genau dies, nämlich über eine im Glauben fußende Verantwortungshaltung diese Identifikationsmomente mit dem freiheitlich-demokratischen Staat zu schaffen und diese gesamtgesellschaftlich nutzbar zu machen.
Auch die Muslimische Akademie Heidelberg i. G. versteht sich demnach als Ermöglichungsraum für gesellschaftliche Transformation, innovative Kooperationen, proaktive Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Diskurse und die Wahrung unseres friedlichen Zusammenlebens. Und immer mehr muslimische Einrichtungen haben sich in der BRD auf einen ähnlichen Weg gemacht.

Es gilt nun darauf hinzuwirken, dass sich dieses Engagement, nämlich Orte der Demokratiebildung in muslimischer Trägerschaft nun auch nachhaltig niederschlägt und den Weg zur Institutionalisierung zu ebnen.

Yasemin Soylu

Yasemin Soylu

Yasemin Soylu studierte Ethnologie und Psychologie (B.A.) in Heidelberg und Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (M.A.) in Osnabrück. Seit 2014 ist sie in der politischen Erwachsenen- und Jugendbildung tätig, unter anderem auch für die Landeszentrale für politische Bildung. Seit der Gründung im Jahr 2014 begleitet sie das Vorhaben von Teilseiend e. V. und ist im Leitungsteam mitverantwortlich für den Strukturaufbau und das Management der Muslimischen Akademie Heidelberg i. G.

1, 2 Neue Rechte – Rassismus – Diskursverschiebungen – Gewalt. Was passiert gerade in unserem Land und was bedeutet dies für die politische Bildung? Stellungnahme der Zentralen für politische Bildung (2020), § 4 [Teilhabestärkung]. [] []

3 Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 112. []

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